Gefaehrliche Versuchung
wünschte sie sich beinahe, dass Harry es tun würde. Es würde ihr die Entscheidung abnehmen und ihn in ihr Bett bringen, wo er sie halten und vor der Nacht beschützen konnte.
Allerdings war er ein Gentleman. Er kam nicht.
Auch in der zweiten Nacht kam er nicht. Und sie schlief auch nicht. Sie versuchte es, schloss die Augen, um sie im nächsten Moment wieder aufzuschlagen. So ging es die ganze Nacht hindurch, während sie von der Anstalt über das Schlafzimmer des Dukes bis hin zu einem besonders schlimmen Albtraum getrieben wurde, in dem sie unter dem Schreibtisch ihres Vaters hockte und mit anhören musste, wie dieser seinem Bruder sagte, wie schrecklich sie wäre.
Sie gab keinen Laut von sich. Vor langer Zeit hatte sie gelernt, wie wichtig es war, still zu sein. Dennoch ertappte sie sich bei dem Wunsch, Harry würde die Schreie in ihrem Kopf hören und kommen, um sie zu beruhigen. Sie wünschte sich absurderweise, dass er etwas tun würde, um sie zu ärgern. Aber Harry hielt sein Wort, auch wenn sie wieder das erbarmungswürdige Stöhnen aus seinem Zimmer hören konnte.
In der dritten Nacht konnte sie nicht aufhören, darüber nachzugrübeln, ob es leichter für sie beide wäre, sich zusammenzuschließen – nur nachts, damit Harry ein wenig schlafen konnte. Er hatte sich ausruhen können, als sie bei ihm gewesen war. Vielleicht konnte sie ihm wieder helfen.
Als sie zum dritten Mal panisch und atemlos aufschreckte, beschloss sie, dass es Zeit war, Harry zu helfen. Ihr Herz hämmerte wie wild, und die Schatten griffen nach ihren Beinen. Sie machte die Tür zu den Verbindungszimmern auf und durchquerte diese. Als sie die Tür zum Ankleidezimmer öffnete, wäre sie vor Schreck beinahe in Ohnmacht gefallen. Harry hatte einen Sessel in den kleinen Raum gezerrt und saß, mit Hose und Hemd bekleidet, dort. Sein Haar war zerzaust, und er hatte einen Bartschatten im Gesicht. Neben seinem Ellbogen stand eine flackernde Kerze.
Sein Blick war auf einen Skizzenblock gerichtet, der auf seinem Schoß lag. Einen Moment lang fragte Kate sich, was er wohl gemalt hatte. Dann bemerkte sie den Ausdruck in seinen Augen. Nacktes Verlangen. Schmerz. Und sie wusste, dass er eine Zeichnung seiner Zukunft betrachtete, die er für sich geplant hatte, seit er denken konnte. Die Zukunft, die sie vielleicht schon zerstört hatte.
Sie wollte sich gerade zurückziehen, als er den Kopf hob. Nur für einen Augenblick, eine Sekunde lang, stand in seinen Augen eine solche Traurigkeit, dass sie sie zu fühlen glaubte – scharf wie eine Rasierklinge, die tief in ihr Herz schnitt.
»Es tut mir leid«, sagte sie und wollte sich umdrehen.
Er sprang auf und ließ den Block auf den Boden fallen. »Nein. Geh nicht.«
Doch sie hatte zu viel in seinen Augen gesehen. Harry Lidge würde niemals glücklich werden, wenn er Blumen in Gloucestershire züchtete. Sein Herz würde sich immer nach fernen Ländern sehnen.
»Geht es dir gut, Kate?«, fragte er.
Fast hätte sie den Kopf geschüttelt. »Überrascht«, gab sie zu, holte tief Luft, drehte sich um und sah, dass die Trauer wieder gut verborgen war. »Was tust du hier?«
Sein Lächeln war dünn. »Ich versuche, den Mut aufzubringen, an deine Tür zu klopfen.«
Sie erstarrte. »Warum?«
Er wies in Richtung ihres Zimmers. »Ich war hier und habe gehört, dass du Albträume hattest. Das kann ich nicht aushalten.«
Eine ganze Weile konnte sie wegen des merkwürdigen Kloßes in ihrem Hals nicht antworten. Er schien tatsächlich besorgt zu sein.
»Ich habe dich auch gehört«, entgegnete sie. Es war ihr unangenehm, dass ihre Stimme zitterte, und sie war darüber beschämt, dass sie ihn nicht in Ruhe ließ – nicht einmal nach dem, was sie in seinen Augen gesehen hatte. »Es kommt mir dumm vor, allein zu leiden.«
Als er aufblickte, sah sie, dass die Gespenster, die seinen Schlaf störten, mindestens genauso beängstigend waren wie ihre. »Wie wäre es, wenn ich zusätzliches Licht mache?«
Wie schon zuvor machten sie es sich Seite an Seite bequem, ohne einander zu berühren. Offensichtlich reichte dies Harry nicht, denn nach ein paar Minuten streckte er die Arme aus und zog Kate an seine Brust. Er hielt sie umfangen. Ihr erster Impuls war es, sich zu wehren. Er erstickte sie. Sicherlich würde sie keine Luft bekommen, wenn er sie so fest umschlungen hielt.
»Sch«, flüsterte er in ihr Ohr, während er zärtlich über ihren Arm streichelte. »Es ist an der Zeit, dass man sich um dich
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