Gefaehrliche Versuchung
geworfen worden waren. Bei der Erinnerung daran erschauderte sie. Die Geister dieser Jungen, die um Hilfe gebettelt hatten, um Beistand, um Erleichterung, die sie nicht hatte geben können, suchten sie noch immer heim.
Als würde es die Bilder vertreiben, kniff sie die Augen zusammen. Harry hatte das alles zehn Jahre lang ertragen. Wie hatte er es überlebt?
Sie wusste es natürlich. Sein Geheimnis waren die anderen Zeichnungen – die Zeichnungen von Ordnung, Schönheit und Ruhe. Die Träume, die sie ihm zu rauben drohte.
»›Gott hat die Hölle für die Neugierigen erschaffen‹«, hörte sie hinter sich und hob abrupt den Kopf.
Harry stand in der Tür und trug nur eine Hose und ein Hemd. Er sah mit seinem zerzausten Haar und den himmelblauen Augen wie ein verlorener Engel aus.
Sie schüttelte den Kopf. »Sankt Augustin hatte recht. Es tut mir leid.« Dennoch konnte sie diesen Kriegsbericht nicht schließen. »Ich hatte kein Recht dazu.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hast dich noch nie dafür entschuldigt, in meinen Skizzenblock zu blicken.«
»Damals hast du so etwas auch noch nicht gemalt.« Sie betrachtete ein Bild, auf dem Männer von einem brennenden Gebäude herabschossen. Männer, die es nicht lebendig von diesem Dach geschafft hatten. »Kann ich davon ausgehen, dass deine Albträume ungefähr so aussehen?«
»Ungefähr genau so.«
Sie blätterte durch die Seiten, bis sie wieder Ordnung fand. »Und das hier sind deine Träume.«
Sie wünschte sich, es wäre möglich, doch seine Reaktion war nicht misszuverstehen. Der Schmerz des Verlustes, der in diesen Augen stand, traf sie tief ins Herz.
»Harry …« Aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte, wie sie diesem Wunsch begegnen sollte. Sie war ein Störfaktor.
»Lass uns nicht zu weit nach vorn denken«, sagte er, ehe sie sich entschuldigen oder – schlimmer noch – weinen konnte. »Lass uns einfach nur die Tatsache genießen, dass wir besser zurechtkommen, als wir uns erhofft hatten.« Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Schließlich würde jeder andere vor Angst schreiend davonlaufen, wenn er die Geräusche hören würde, die du und ich nachts machen.«
Sacht hob er ihr Kinn an und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Kate verspürte ein unerwartetes Erschauern. Wie seltsam. In dem Moment fühlte sie sich Harry näher als jedem anderen Menschen in ihrem Leben. Er hatte recht. Sie teilten nicht nur den Schmerz und die Albträume, sondern die Tatsache, dass sie beide überlebt hatten. Sie konnte es nicht glauben, doch zum ersten Mal in zehn Jahren spürte sie eine aufrichtige Verbundenheit mit Harry Lidge. Diese Verbundenheit war aus dem Kampf erwachsen – in seinem Fall ein öffentlicher Kampf, in ihrem ein privater.
»Vermutlich«, entgegnete sie. »Da du nicht schnarchst … Ich musste Bivens bitten, aus meinem Ankleidezimmer auszuziehen. Die Frau klingt wie ein Bär im Winterschlaf.«
Für den Moment fühlten Kate und Harry sich wohl miteinander, und so schlüpften sie ins Bett und schliefen.
Kapitel 17
Am nächsten Nachmittag gönnten Harry und Kate sich eine Pause von der langweiligen Aufgabe, das Leben ihres Onkels zu durchforsten, und widmeten sich stattdessen der langweiligen Aufgabe, sich durch die ehelichen Vereinbarungen zu arbeiten. Als die Notare schließlich gingen und sich die Köpfe wegen dieser unterschiedlichen Klienten kratzten, schenkte Harry zwei Gläser Madeira ein und ließ sich neben seiner Frau auf dem Sofa in der Bibliothek nieder. Sie sah traurig aus und ein bisschen verloren, schoss es ihm durch den Kopf. Das war eigentlich nicht überraschend. Die Notare hatten eine ganze Weile damit zugebracht, aufzulisten, was sie nicht mehr besaß.
Harry hatte nie zuvor daran gedacht, doch Kate hatte recht. Männer hatten ein Recht auf alles. Und Kate konnte nichts dagegen tun, außer den Verlust zu beweinen. Harry hatte in der Angelegenheit schon ein paar Maßnahmen in die Wege geleitet, aber im Augenblick konnte er nur versuchen, die Stimmung etwas aufzuhellen.
»Du hast ein Händchen für Überraschungen, Madame«, sagte er und erhob sein Glas zum Toast auf die Geschäftigkeit, die sie für ihr Anwesen und die Menschen darauf entwickelt hatte. Blumen waren offensichtlich gewinnbringender als er gedacht hatte. Sie verkaufte ihre Tulpen sogar nach Irland.
»Ich?«, erwiderte sie und stieß mit ihm an. »Ich glaube nicht, dass ich diejenige bin, die Anteile an allen möglichen
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