Gefaehrliche Versuchung
»Du kennst die Menschen nicht, die in die Sache verwickelt sind. Ich muss sie davon überzeugen, dass sie sich täuschen. Ian hätte so etwas nie getan. Ich muss zumindest jemanden schicken, der nach seiner Leiche sucht, und ich muss seine Familie benachrichtigen.«
»Wo hat man nach ihm gesucht?«, fragte Kate.
»Sie wollten gerade in Portsmouth einlaufen.«
»Warum reist du nicht hin und suchst selbst? Du musst dir Gewissheit verschaffen.«
Er blinzelte, fühlte sich benommen. »Du weißt, dass das nicht geht.«
Sie lächelte. »Ich bin besser bewacht als die königliche Familie«, erwiderte sie. »Und ich habe genug zu tun, um mich zu beschäftigen. Himmel, ich habe noch nicht einmal Onkel Hilliards Rechnungen vom Herrenausstatter durchgesehen.«
Er küsste ihre Hand. »Danke, Kate, aber ich kann nicht. Ich muss ins Innenministerium. Ians Tod war nicht die einzige Neuigkeit. Einer der Staatssekretäre des Innenministeriums wurde in der vergangenen Nacht tot aufgefunden. Sein Büro und sein Haus sind durchsucht worden.«
Abrupt blickte er auf. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er Kate noch nicht von dem anderen Mörder erzählt hatte. Er wollte es nicht. Sie sollte nicht noch mehr Angst bekommen. Doch es war zu gefährlich, ihr neue Bedrohungen zu verschweigen.
»Kate, du solltest wissen, dass man ihm die Kehle durchgeschnitten hat.«
Sie riss die Augen auf. »Oh …«
»Und ihm wurde ein Zitat in den Körper geritzt.«
Kate wurde bleich, zitterte jedoch nicht. »Aber der Chirurg ist tot. Ich habe ihn selbst gesehen.«
»Anscheinend hat er jemand anders seine Kunst gelehrt. Wir müssen noch vorsichtiger sein, Kate. Ich möchte, dass du im Haus bleibst.«
Sie schüttelte bereits den Kopf. »Für wie lange? Wenn ich im Haus hocke, werden die Leute glauben, dass du mich zur Hochzeit gezwungen hast. Man muss mich dabei sehen, wie ich mich amüsiere. Und du musst dabei gesehen werden, wie du dich mit mir gemeinsam amüsierst.«
Harry wollte lachen. Wie sollte er sich amüsieren? Er rieb sich über die Augen und wünschte sich, er könnte mit Kate zusammen wieder ins Bett kriechen. Es war zwar die reinste Hölle, die ganze Nacht mit ihr in den Armen im Bett zu liegen, ohne dass etwas passierte, doch es lenkte ihn auf jeden Fall von allem anderen ab. Und er musste wenigstens für eine Weile an etwas anderes denken als an Ian. Im Augenblick konnte er sowieso nichts tun. Und er konnte ihn nicht einmal in das gestaltlose Jenseits verbannen, wohin er all seine gefallenen Kameraden verbannt hatte. Nicht solange er nicht wusste, was wirklich geschehen war.
»Komm, Harry«, sagte sie nüchtern, »du solltest ein wenig schlafen.«
Er schüttelte den Kopf, obwohl sie ihn bereits auf die Beine zog. »Ich muss …«
»Du bist dir sicher, dass Ian tot ist.«
Er nickte.
»Wird eine weitere Stunde ihn zurückbringen?«
Er wusste nicht, wie sie es anstellte, aber sie half ihm dabei, sich auszuziehen. Dann wurde Mudge weggeschickt, um auch noch zu schlafen. Und schließlich lockte sie Harry in das weiche Bett und hielt ihn eine Stunde lang einfach in den Armen. Als er irgendwann ihre Tränen an seinem Hals spürte, ließ sie zu, dass auch er sie festhielt.
Umhüllt von ihrer Wärme, fühlte Harry, wie etwas sich in ihm abrupt löste – wie ein alter, fester Knoten, der mit einem Schlag durchtrennt wurde. Es war etwas, das ihn davor bewahrt hatte, verletzt zu werden. Eigentlich wollte er es nicht verlieren. Er wollte sich nicht schwach und unsicher fühlen. Er wollte überhaupt nichts fühlen. Doch es war zu spät dafür.
»Es gibt neben alldem allerdings auch eine gute Neuigkeit«, sagte er.
Sie rührte sich nicht. »Welche denn?«
Lächelnd strich er ihr durchs Haar. »Du bist nicht verrückt.«
Abrupt hob sie den Kopf. »Lady Riordan?«
»Sie befindet sich dort, wo du vermutet hast. Ein Mitglied von Diccans Haushaltsarmee hat sich eine Stellung in der Anstalt besorgt.«
»Ist sie gerettet worden?«
Harry hörte die alte Angst in ihrer Stimme und wünschte, er könnte sie beruhigen. »Ich weiß nicht, was die Regierung genau vorhat.«
Kate erschauderte. »Armes Ding.«
Harry zog sie noch enger an sich. »Wenn du nicht gewesen wärst, hätte sie keine Chance gehabt.«
Sie legte den Kopf auf seine Brust, als wäre es ganz selbstverständlich, und Harry vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.
»Noch eines«, sagte er und fühlte sich noch schlechter.
Sie nickte. »Wellington wurde angegriffen«, sagte sie
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