Gefaehrliches Schweigen
das Rauschen vereinzelter vorbeifahrender Autos herüber. Der Hauptverkehr war vorbei, die meisten Leute waren schon von der Arbeit nach Hause gekommen.
Im Schnee wäre eine weiße Katze kaum zu erkennen. Allerdings war die Straße hier geräumt und nur von Matsch bedeckt. Das weiche Fell, das Missa jeden Abend sorgfältig sauber leckte, würde sich deutlich von der bräunlichen Schmiere abheben. Natalie näherte sich dem Wald, der sich schwarz und feindselig vor ihr erhob. Sie wurde langsamer, während sie nach Spuren Ausschau hielt. Verletzte Tiere suchen gerne Schutz unter Büschen.
Es war kälter, als sie gedacht hatte. Die Kälte drang durch die Steppjacke an ihre bloßen Arme, und ohne wärmende Wollsocken begannen ihre Zehen zu schmerzen. Sie hatte es zu eilig gehabt, hinauszukommen.
Doch das war nicht wichtig. Wichtig war nur, Missa zu finden.
Plötzlich bewegte sich etwas. Natalie zuckte zusammen.
Sie sah genauer hin. Eine weiße Plastiktüte war unter einem Schneebatzen festgeklemmt und flatterte im Wind.
Die Landschaft verschwamm vor ihren Augen, doch dann wischte Natalie rasch die Tränen der Enttäuschung weg und starrte noch angestrengter in den dunklen Wald.
Da! Sie entdeckte etwas.
Es war wie ein Stich ins Herz. Ihr Körper erstarrte zu Eis. Lautes Dröhnen erfüllte ihren Kopf.
„Neeein!“
Sie begann zu rennen, sprang über den Graben und folgte den Fußspuren im Schnee.
„Neein! Neein!“
Ihr Schrei ging in Weinen über. Sie hielt sich die Hände vor die Augen, um das Grauen nicht sehen zu müssen.
Schon ein einziger kurzer Blick war zu viel gewesen.
Ein solcher Anblick sollte niemandem je zugemutet werden.
Ein dünner Katzenkörper, der von einer Schlinge herabhing, die Beine in einem unnatürlichem Winkel abgespreizt …
Was haben sie getan?!
WAS … HABEN …
MONTAG
Es war ein ungemütlicher Abend für einen Hundespaziergang. Wir befanden uns zwar schon mitten im ersten Frühlingsmonat, aber von Frühling war weit und breit nichts zu sehen. Das Thermometer parkte seit mehreren Tag kurz unter zehn Grad minus und der Wind rüttelte an den bedrohlich ächzenden Bäumen. Aber ich hatte meine Thermojacke an und die Mütze, die Oma gestrickt hatte, auf dem Kopf, und Wuff wurde ja von ihrem schwarz gefleckten Fell gewärmt.
Hier, wo ich wohne, klettern die Reihenhäuser und Einfamilienhäuser an einem Hang entlang. Unsere Häuser sind der letzte Außenposten, danach gibt es nur noch Natur. Stockholm lässt sich manchmal als Lichtschein am schwarzen nördlichen Nachthimmel erahnen. Die Leute, die dort wohnen, glauben, unser Vorort sei der soziale Brennpunkt Nummer eins im ganzen Großraum Stockholm, wo Diebe und Mörder hinter jedem Busch lauern. Völliger Quatsch! Wir schließen hier nicht mal unsere Fahrräder ab. Aber zugegeben, auch bei uns passieren schlimme Sachen. So wie neulich, vor ein paar Monaten erst.
Eine tote Mitschülerin.
In der Nähe des verwunschenen kleinen Waldsees, an dem ich oft mit Wuff spazieren gehe, wenn nicht gerade so viel Schnee liegt wie jetzt, ist Mikaela, meine Nachbarin und Klassenkameradin, tot aufgefunden worden. Ihr Leben endete gleich neben einer Lichtung, wo ich oft mir ihr gepicknickt hatte.
Mein Alltag hat sich wieder normalisiert, aber in meinen Gedanken ist Mikaela noch da. Bis vor Kurzem kamen mir jedes Mal die Tränen, wenn ich an sie dachte, doch inzwischen ertappe ich mich manchmal dabei, bei der Erinnerung an die vielen verrückten Sachen, die sie angestellt hat, zu lächeln.
Die Gärten wirkten wie erstarrt mit ihren steif gefrorenen Bäumen und zugeschneiten Beeten, aus denen vereinzelte Zweige ragten. Die Gartenmöbel kauerten in Gruppen unter den Abdeckungen. Im Sommer ziehen meistens Grillschwaden tief über das Grün und die Gärten kochen förmlich über vor Aktivitäten, aber jetzt schienen sich alle Bewohner zum Winterschlaf zurückgezogen zu haben. Nur Wuff und ich waren unterwegs.
Ich hätte mit verbundenen Augen herumwandern können. Im Laufe meines vierzehnjährigen Lebens hatte ich jede einzelne Kurve hier in der Gegend umrundet, war sämtliche steilen Straßen hinaufgestapft und hinabgeschlittert. Vielleicht war das der Grund, warum ich von meiner gewohnten Strecke abwich. Möglicherweise war ich ein klein wenig gelangweilt.
Der Schnee knirschte unter meinen Füßen, als ich zur großen Straße spazierte. Da Wuff unterwegs an jedem Fleck schnupperte, war unser Tempo nicht unbedingt schweißtreibend. Aber ich hatte
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