Gefährliches Spiel
Worontzoff?“ Charity nickte. „Wie lange lebt dieser Worontzoff schon in Parker’s Ridge? Es scheint ein seltsamer Ort für einen Exilrussen, um sich niederzulassen.“
„Nun, vielleicht nicht allzu seltsam. Mir wurde gesagt, dass das Hinterland von Vermont sehr der Gegend um Moskau ähnelt, nur dass unsere Birken hier größere Blätter haben. Und Wassily ist kein russischer Flüchtling. Er kam aus dem Lager mehr oder weniger zu der Zeit, als die Sowjetunion fiel. Er wurde in Moskau wie ein König empfangen. Ich erinnere mich noch daran. Ich hatte gerade Trockne deine Tränen in Moskau gelesen und verfolgte in den Zeitungen, was mit ihm geschah.“
Nick rechnete schnell nach. „Himmel, Sie können nicht älter gewesen sein als …“
„Zwölf.“ Sie zuckte die Schultern, und eine weitere Wolke ihres Feenstaubs wehte in seine Richtung. „Sehr altkluge zwölf. Und … in dem Sommer hatte ich … viel Zeit zum Lesen.“
Da hatte sie verdammt noch mal recht. Im Sommer 1993, als Worontzoff entlassen wurde und wie ein siegreicher Held nach Moskau zurückkehrte, hatte Charity Prewitt im Krankenhaus gelegen. Ihr Vater hatte sie in dem verzweifelten Versuch, während eines Feuers in einem Hotel ihr Leben zu retten, aus einem Fenster im zweiten Stock geworfen. Die beiden Prewitts, Mann und Frau, waren bei dem Feuer ums Leben gekommen und Charity hatte sich einen Rückenwirbel gebrochen. Sie war dreimal operiert worden und hatte den Sommer und auch fast den gesamten darauffolgenden Winter in einem Gipskorsett liegend verbracht.
Nick wartete darauf, dass sie ihre Geschichte erzählte, aber sie tat es nicht.
Interessant.
Nach Nicks Erfahrung waren Menschen, die ein Trauma durchlebt hatten, meist geradezu gierig darauf, davon zu erzählen. Es war wie eine Tapferkeitsmedaille – guck mal, was ich durchgemacht habe, guck mal, was ich überlebt habe .
Charitys Geschichte war besonders dramatisch. Ein Feuer, das von einem verärgerten Angestellten im vierten Stock des Luxushotels gelegt wurde, in dem sie mit ihren Eltern wohnte. Ihr Vater, der sie in Decken wickelte und in einem panischen Rettungsversuch vom Balkon warf und dann ins Zimmer zurücklief, um seine Frau zu retten. Es dauerte zwei Tage, bis der Raum genug abgekühlt war, um die verkohlten Knochen für eine Beerdigung zu bergen. Charity konnte die Beerdigung nicht besuchen. Zu der Zeit war sie schon zweimal operiert worden und bekam starke Schmerzmittel.
Warum erzählte sie ihm nicht davon?
Aber sie tat es nicht, und Stille machte ihr, anders als den meisten Frauen, offensichtlich auch nichts aus. Sie nippte an ihrem Wein und sah ihn ruhig an.
Schließlich brach Nick das Schwiegen.
„Also verlässt er Russland und kommt in die Staaten? Warum? Ich meine, schließlich ist das sowjetische System gefallen. Warum ist er nicht dort geblieben? Vor allem, weil er doch eine ziemlich große Nummer da drüben war.“
Das war Unsinn. Nick wusste genau, warum Worontzoff hier war, und er sah den Grund direkt vor sich. Charity Prewitt. Das Ebenbild einer toten Frau, Worontzoffs Geliebten Katya Amartova, die im Lager gestorben war.
Nick hatte Fotos von der Amartova gesehen, und ihre Ähnlichkeit mit Charity war schon fast unheimlich. Ein normaler Mann würde nie denken, dass eine Frau, die zufällig so aussah wie die Frau, die er einmal geliebt hatte, auch sie sein könnte, aber Worontzoff bewegte sich schon seit Jahren nicht mehr innerhalb der Grenzen der Normalität.
Sie war noch einen Moment lang still und legte dann ihr Kinn auf eine Faust. „Ich weiß nicht genau, warum Wassily hierher gezogen ist. Er hat noch nie darüber geredet. Ich habe einfach angenommen, dass er einen Schlussstrich ziehen wollte und immigriert ist, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen.“ Und – nicht zu vergessen – um ein kriminelles Imperium zu errichten. „Über diese Dinge sprechen wir nicht“, fuhr sie mit ihrer sanften Stimme fort. „Wir sprechen hauptsächlich über Bücher. Wassily hat einen unglaublichen Intellekt. Es ist ein Privileg, Zeit mit ihm verbringen zu dürfen.“
Arschloch , dachte Nick säuerlich und rief sich dann einigermaßen erschrocken zur Ordnung. Das Geheimnis von erfolgreicher Undercoverarbeit lag darin, immer in der Rolle zu bleiben, selbst in den eigenen Gedanken. Vor allem in den eigenen Gedanken. Wenn er solch einen inneren Monolog führen würde bei einem Gespräch mit jemandem, der weniger harmlos war – beispielsweise Guillermo
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