Gefährliches Talent: Kriminalroman
Jogginganzug geschlüpft war, in dem sie in letzter Zeit schlief, trottete sie in die Küche, öffnete eine Dose Linsensuppe, goss etwas in einen Becher und stellte ihn in die Mikrowelle. Während die Suppe heiß wurde, sah sie auf dem Anrufbeantworter im Wohnzimmer nach, und als es nicht blinkte, fühlte sie eine düstere Stimmung in sich aufkommen. Verwirrt, die Hand auf dem Telefon, runzelte sie die Stirn. Warum dieser Stimmungsumschwung? Von wem erwartete sie einen Anruf? Kannte sie denn jemanden außer Chris, über dessen Anruf sie sich gefreut hätte? Kannte sie überhaupt jemanden?
Ihre Euphorieblase war geplatzt und sie ging zurück in die Küche, um langsam ihre Suppe zu schlürfen. Was war ihr Problem? Einsamkeit? Durchaus möglich. Irgendwann, es war eine Ewigkeit her (neun Jahre, um genau zu sein, kurz nach Geoffs Verurteilung), da war sie mal kurz verheiratet gewesen. Eine absolute Katastrophe. Und dazu noch die Blamage durch ihren Vater. Am Ende war sie ziemlich fertig gewesen. Sie hatte sich monatelang verkrochen, sich ach so leidgetan und war anderen Menschen aus dem Weg gegangen, sogar ihren Freunden. Dann in ihrem ersten Jahr in Italien machte ihr die Sprachbarriere zu schaffen, bis sie schließlich fließend Italienisch sprechen konnte. Aber im Laufe der Zeit war sie ungewollt zur Einzelgängerin geworden. Und das mit neunundzwanzig.
Sie war jetzt schon fast acht Monate in Seattle. Wann hatte sie zum letzten Mal ein Date gehabt oder zumindest so was in der Art? Wann hatte sie zuletzt in einem Weinlokal wie dem von Chris mit einer Freundin bei einem Glas zusammengesessen und gequatscht? Wie viele echte Freunde hatte sie? Antworten: a) vor zwei Monaten; b) noch nie; c) keinen einzigen.
Niedergeschlagen, regelrecht melancholisch ging sie um zehn ins Bett. Wie seltsam, wie irrational Stimmungen doch sein konnten.
Ausnahmsweise hatte sie einmal daran gedacht, vorm Zubettgehen den Timer der Kaffeemaschine zu stellen, deshalb wurde sie von verführerischem Duft geweckt, erholt und guter Laune. Draußen war es so neblig, dass sie das andere Ufer des Puget Sound nicht mehr ausmachen konnte, aber wen kratzte das schon? Es war ein neuer Tag und es gab viel zu tun. Ihre miese Stimmung vom Vorabend war nur auf den unvermeidlichen Adrenalinabfall nach den aufregenden Erlebnissen des Tages zurückzuführen gewesen, das war ihr jetzt klar.
Sie holte sich eine Tasse Kaffee und ging zurück ins Bett. Während sie mit einem Kissen im Rücken dasaß und das aromatische, schwarze Gebräu genoss, dachte sie zufrieden an die Ereignisse des Vorabends zurück und malte sich aus, was noch auf sie zukommen würde. Sie würde den Morgen in der Museumsbibliothek verbringen und sich eingehend mit Georgia O’Keeffe und der aktuellen Kunstszene von Santa Fe beschäftigen. Dann würde sie, um Zeit zu sparen, in der Museumscafeteria zu Mittag essen und zurück in die Bibliothek gehen …
Sie hielt schon das Telefon in der Hand, bevor sie sich überhaupt bewusst wurde, dass es geklingelt hatte. »Hallo?«
Die fröhlich glucksende Stimme rief schallend in ihr Ohr: »Guten Morgen, Schatz …«
Sie verzog das Gesicht. Ihr Vater. Wann würde sie endlich mal dran denken, die Anruferkennung zu aktivieren?
»Hallo Geoff«, murmelte sie und fiel zurück in ihr Kissen.
»Mein Liebes, ich wollte nur fragen, wie es gestern mit deiner O’Keeffe-Sammlerin gelaufen ist.«
»Ganz gut.« Sie spürte, wie Ärger in ihr aufstieg und sich ihre Nackenmuskeln verspannten. Wie gelang es ihm nur immer, im richtigen Moment anzurufen – oder im falschen – und ihr die Laune zu vermiesen?
»Hast du den Job gekriegt?«
»Ja.«
»Und es geht um O’Keeffe?«
»Ja. Hör mal, Geoff, ich muss …«
»Ich habe Tiny davon erzählt, Liebes, und er hat ein paar warnende Worte für dich. Er steht direkt neben mir. Tiny …«
»Nein, ich möchte jetzt lieber nicht mit ihm reden.«
Eine kurze Pause. »Kein Problem. Wenn du nicht willst.«
Sie hörte Tinys träge, gekränkte Stimme im Hintergrund. »Sie will nicht mit mir reden?«
Es zerriss ihr das Herz. Sie hatte zum ersten Mal seit über zehn Jahren »Onkel Beniaminos« Stimme gehört. Er war ein liebenswerter, dicker – um nicht zu sagen, massiver – Mann, eine Seele von Mensch, im Oberstübchen nicht allzu üppig ausgestattet, aber ein genialer Handwerker, der jeden Künstler imitieren konnte. Zu ihrem vierzehnten Geburtstag hatte er einen wunderschönen ovalen Wandspiegel für
Weitere Kostenlose Bücher