Gefährliches Talent: Kriminalroman
sie angefertigt, der in eine bemalte Holzplatte gefasst war, auf der Putten in Wolken herumtollten. Es sah aus wie der Hintergrund eines italienischen Renaissance-Porträts. Bei seinen Riesenpranken und Wurstfingern war das schon eine ungeheure Leistung. Bevor sie nach Italien gegangen war, um bei Santullo zu studieren, hatte sie alles verkauft, inklusive ihrer Kleidung, nur diesen Spiegel nicht.
»Nein«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich muss jetzt aufhören, Geoff.« Dann legte sie auf.
Sie kochte vor Wut. Typisch Geoff, ihr wegen Tiny ein schlechtes Gewissen zu machen. War sie Tiny irgendwas schuldig? Okay, er war nett zu ihr gewesen, als sie klein war. Das war’s aber auch. Er war ein Gauner und ein Schwindler genau wie Geoff. Der war auch ein Gauner und ein Schwindler und ein Schmarotzer obendrein. Immer wenn Tiny bei ihnen in Manhattan aufgetaucht war, gemeinsam mit den anderen »Freunden« ihres Vaters, da hatten sie sicher ausgeheckt, wie sie wieder irgendeine hilflose alte Witwe übers Ohr hauen konnten, die die Sammlung ihres Mannes geerbt hatte und vollkommen überfordert damit war.
Trotzdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, verdammt! Aber warum eigentlich
sie
? Warum hatte denn ihr Vater kein schlechtes Gewissen? Und überhaupt, wenn es ihn so brennend interessierte und er sich so sehr um ihr Wohlergehen sorgte, warum hatte er sichdann erst morgens nach dem Treffen erkundigt? Sie hatte ihm am Vorabend endlich etwas Persönliches anvertraut, das derzeit Wichtigste in ihrem Leben, und trotz seines angeblichen Interesses hatte er nicht mal angerufen, jedenfalls nicht vor morgens. Warum hatte er denn nicht schon abends anrufen können? Wenn sie ihm so viel bedeutete, warum hatte er keine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen …?
Moment, das ist doch lächerlich! Ich bin sauer, wenn er anruft, und wenn er nicht anruft, bin ich auch sauer? Was soll das eigentlich? Es ist fast, als ob … als ob …
Als der unliebsame Gedanke schließlich die Mauer durchbrach, mit der sie sich dagegen zu schützen versuchte, da konnte sie es einfach nicht glauben. Sie weigerte sich, es zu glauben. Aber ganz tief im Innern wusste sie, dass es stimmte.
Am Abend zuvor hatte sie sich so sehr gewünscht, eine Stimme auf dem Anrufbeantworter zu finden, die Stimme eines Menschen, der wissen wollte, wie ihr Treffen mit Chris gelaufen war … wie es ihr im Allgemeinen ging … die Stimme ihres Vaters. Aber warum sollte sie …
Da die Mauer eingerissen war, brachen plötzlich noch andere Gedanken über sie herein, unbequeme, lästige Gedanken, die lange Zeit irgendwo gelauert hatten. Was war der wahre Grund dafür gewesen, ihr Studium in Harvard aufzugeben? Hatte sie wirklich nicht weiterstudieren können, weil sie ihr Geld Geoff gegeben hatte? Hätte sie mit ihren erstklassigen Noten nicht ein Stipendium oder Darlehen beantragen können, um ihr Studium weiterzuführen? Sie wäre mittlerweile außerordentliche Professorin an einer guten Universität, hätte ein geregeltes Einkommen und Freunde. Stattdessen war sie mit fast dreißig ein Häufchen Elend, vollkommen abgebrannt, wohnte in einer fremden Eigentumswohnung und strampelte sich ab, um es in diesem harten, unsicheren Beruf zu etwas zu bringen. Falls man bei »Kunstberatung« überhaupt von Beruf reden konnte.
War das wirklich Geoffs Schuld? Hätte er das Geld überhaupt angenommen, wenn er gewusst hätte, dass es sich um Rücklagenfür ihr Studium handelte? Die Antwort kannte sie natürlich. Sie hatte sie auch damals schon gekannt. Warum hätte sie sich sonst solche Mühe gegeben, es vor ihm geheim zu halten?
Es hatte so viele Scheidewege in ihrem Leben gegeben, die dorthin geführt hatten, wo sie nun war, und die absolut nichts mit Geoff zu tun hatten. Sie hatte selbst die Richtung bestimmt. Andererseits war es natürlich Geoff mit seiner Habgier und seinem Egoismus gewesen, der sie ursprünglich aus der Bahn geworfen hatte. Wenn er nicht …
Sie schüttelte den Kopf. Warum grübelte sie ausgerechnet jetzt darüber nach? Sie hatte neun lange Jahre Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen und es zu begreifen. Stattdessen hatte sie ihre Wunden geleckt und ihrem Vater die Schuld für all ihre Probleme gegeben. War sie etwa auf dem bestem Wege, einer dieser Jammerlappen zu werden, die mit vierzig oder fünfzig Jahren immer noch ihre Eltern für alles verantwortlich machten, was in ihrem Leben schieflief, weil diese sie gar nicht
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