Gefährliches Talent: Kriminalroman
einem herablassenden Lächeln. »Ich glaube, ein klein bisschen später.« Er studierte das Bild noch einen Moment lang. »Ich würde sagen … vierundsechzig. Ja, wahrscheinlich Anfang vierundsechzig. Sie lagen also fast richtig.«
Und du redest totalen Mist
, dachte sie.
Kein Mensch kann das so genau bestimmen.
»Erkennen Sie die Landschaft?«, fragte er.
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es ist die Landschaft der Ghost Ranch. Was meinen Sie?«
»Oh ja, das ist die Ghost Ranch. Das ist ja offensichtlich. Aber wissen Sie auch, wo genau?«
Jetzt macht er einen Wettbewerb draus
, stellte sie fest.
Mit allem, was er sagt, versucht er zu beweisen, dass er cleverer ist als ich. Widerling.
Er erinnerte sie immer mehr an ihren so gar nicht vermissten Ex.
»Nein, nicht genau«, sagte sie durch zusammengebissene Zähne.
»Sagen Sie mal, Ms London, was halten Sie von dem Bild an sich?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, finden Sie das Bild gut? Werden Sie Ihrer Freundin zum Kauf raten? Welchen Stellenwert innerhalb des Werks von Georgia O’Keeffe nimmt das Bild Ihrer Meinung nach ein?« Lächelnd wartete er ihre Antwort ab.
Erstens war sie ja noch gar nicht dazu gekommen, das Bild eingehend genug zu untersuchen, um ein Urteil abzugeben. Und außerdem würde sie keinen vorläufigen Befund abgeben, nur um sich dann wieder von ihm runterputzen zu lassen. »Ich habe mir noch keine Meinung gebildet. Wie würden
Sie
es denn beurteilen?«
Ein Schatten der Besorgnis oder vielleicht des Zweifels huschte über sein Gesicht, die erste echte Gefühlsregung, die sie bei ihm bemerkte. Er war auf diese Frage nicht vorbereitet gewesen. Vielleicht war er doch kein so großer Experte. Langsam fing die Sache an, Spaß zu machen.
Er studierte das Bild, sein Kinn in die rechte Hand gestützt, seinen rechten Ellbogen in der linken Hand. Er räusperte sich. »Ich finde es einfach fantastisch. Sie fasziniert mich immer wieder, wissen Sie. Wie bei ihr das Weiß für Rationalität und Ordnung steht und wie sie nicht nur seine symbolische Bedeutung, sondern auch die formell-strukturellen Aspekte betont.« Er beendete seine Rede mit einem weiteren Räuspern.
Was für ein ausgemachter Humbug, dachte Alix und lächelte ihn an. Hatte er wirklich nicht mehr drauf? Er wusste auch, dass es Blödsinn war, und er wusste, dass sie’s wusste. Denn als er wieder lächelte, bemerkte sie in seinem Gesicht einen Anflug von Verlegenheit oder vielleicht sogar Humor (war es möglich, dass er über sich selbst lachte?). Überrascht sah sie plötzlich eine ganz andere Persönlichkeit aufflackern. Wenn er die manierierte Sprechweise und das affige Gehabe ablegen und ein bisschen echtes Gefühl zeigen würde, könnte er sogar ganz attraktiv sein. Diese stechend blauen Augen, das kantige Kinn …
Stopp
, dachte sie,
jetzt reicht’s aber.
Sie war nicht so dumm, sich auf solche Abwege zu begeben. Sie hatte sich schon immer gut auf eine Sache konzentrieren können und nun machte sie Gebrauchvon dieser Gabe, um sich von de Beauvais abzuwenden und ihre ganze Aufmerksamkeit dem Bild zu widmen. Es war an der Zeit, endlich zu tun, wofür sie bezahlt wurde. Erste Frage: War das Bild echt oder eine Fälschung?
Für die meisten Leute, auch im Kunstbetrieb, klang die Behauptung, jemand habe einen »Kennerblick«, einfach lächerlich – wie eine Zirkusnummer, Hokuspokus, bestenfalls Selbstbetrug. Nach herkömmlicher Auffassung hielt man sich bei der Überprüfung eines Bildes streng an wissenschaftliche Methoden und verließ sich nicht auf einen vagen, schwer erklärbaren ersten Eindruck.
Aber Alix wusste es besser. Sie verließ sich zwar auf ihren ersten Eindruck, ihr Bauchgefühl, und es war schwer zu erklären, aber es beruhte auf Schulung, Erfahrung und Wissenschaft – und darüber hinaus auf der überaus wichtigen angeborenen Fähigkeit, diese verschiedenen Aspekte in ein eindeutiges, allumfassendes, scheinbar instinktives Urteil zu fassen. Das funktionierte nicht bei jedem Künstler. Sie konnte bis zum Gehtnichtmehr einen Duccio oder einen Cimabue anstarren und nichts passierte. Das hieß nicht, dass sie sie nicht mochte oder schätzte, aber sie spürte einfach keine Verbindung. Bei Georgia O’Keeffe jedoch kam diese Verbindung zustande und jetzt, nachdem sie das Bild ein paar Minuten lang intensiv betrachtet hatte, schloss sie die Augen und ließ ihre Eindrücke verschmelzen. Die Farben stimmten … Das Motiv passte auf jeden
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