Gefaehrtin der Nacht
ihr.
Während die ruhige Stimme in seinem Kopf dröhnte, blitzten einzelne Bilder in Olivers Gedanken auf. Skyler im Alter von fünf Jahren: schüchtern und schweigsam. Skyler mit neun: launenhaft und bockig. Skyler mit fünfzehn: wunderschön und sanft. Das Mercer Hotel. Das Betasten und die Unbeholfenheit. Dann ihr Zimmer, wo es schließlich passierte. Ihr liebliches Parfüm, das nach Jasmin und Geißblatt duftete. Ihre scharfen Fangzähne, die sich in seine Haut bohrten.
Oliver spürte etwas Feuchtes auf seinen Wangen. Er weinte. Es war einfach zu viel. Skyler war in jedem Teil seiner Seele, in seinem Blut. Sie gehörte zu ihm wie seine Haut. Er konnte sie nicht gehen lassen.
Was tat er nur? Er gehörte nicht hierher. Das war gegen den Kodex. Wenn das Archiv das herausfände, wäre er gefeuert. Seine Familie wäre gedemütigt und ihr Ansehen ruiniert. Er konnte sich nicht erinnern, warum er überhaupt hierhergekommen war.
Oliver geriet in Panik und suchte verzweifelt nach irgendeinem Ausweg, doch die gleichförmig klingenden Worte rissen nicht ab und hämmerten den Zauberbann in sein Gehirn.
Du bist nicht länger ihr Vertrauter.
Du bist niemand.
Nein. Nein, das ist nicht wahr. Oliver fühlte sich elend und verwirrt. Er wollte seine Liebe zu Skyler nicht aufgeben. Auch wenn sie ihn so sehr quälte, dass er nicht mehr schlafen, nichts mehr essen konnte. Er wollte diese Erinnerungen behalten. Seinen sechzehnten Geburtstag, als Skyler ein Porträt von ihm gemalt und ihm eine mit Herzen verzierte Eistorte gekauft hatte. Nein, er musste sie bewahren … Er musste … Er musste … Er könnte loslassen. Er könnte der angenehmen, ruhigen Stimme lauschen und loslassen. Alle Erinnerungen gehen lassen.
Er war niemand.
Er war ein Nichts.
Der Albtraum war vorbei.
Als er aufwachte, hatte sich der Arzt über ihn gebeugt und betrachtete ihn prüfend.
Eine Stimme – er war unsicher, wem sie gehörte – sagte: »Die Laborergebnisse sind da. Er ist sauber. Stell ihn in die Warteschlange.«
Ein paar Minuten später stand er neben einer Reihe junger Vertrauter im Foyer. Er war noch etwas wackelig auf den Beinen. Sein Kopf schmerzte und er konnte sich nicht erinnern, was er hier wollte. Doch er hatte keine Zeit darüber nachzudenken oder seine konfusen Gedanken zu ordnen, denn plötzlich öffneten sich die Vorhänge und eine wunderschöne Vampirin betrat den Raum.
»Bonsoir« , begrüßte sie ihn. Sie war hochgewachsen wie ein Model und trat mit dem Selbstvertrauen einer Königin auf. Er vermutete, dass sie mit ihrer perfekt geschnittenen Reisekleidung und dem sinnlichen französischen Akzent zur Europäischen Vampirgemeinschaft gehörte.
Ihr Partner tauchte hinter ihr auf. Er war groß und schlank, hatte wirres schwarzes Haar auf dem Kopf, einen gelangweilten Ausdruck im Gesicht und wie sie eine Gauloises im Mundwinkel. Die beiden wirkten mit ihren eng anliegenden schwarzen Rollkragenpullovern und den eindringlichen Blicken aus dunklen Augen wie zwei geschmeidige Katzen.
»Du«, schnurrte sie und sah Oliver direkt ins Gesicht. »Komm mit mir.«
Ihr Partner wählte ein benommen wirkendes Mädchen aus und die beiden Menschen folgten dem Paar zu einem der komfortablen Zimmer im Dachgeschoss. Der größte Teil des Bluthauses war so einfach wie möglich eingerichtet. Dünne Vorhänge trennten die Kabinen voneinander ab. Doch dieses Zimmer war so vornehm wie eine Suite in einem Fünfsternehotel, ein prachtvoller Raum mit einem luxuriösen Pelzüberwurf auf einem extrabreiten Bett, vergoldeten Spiegeln und barocken Möbeln.
Der männliche Vampir zog das Mädchen zum Bett, riss ihr das Kleid vom Körper und begann sofort an ihr zu saugen.
Oliver sah zu, doch er verstand es nicht. Er wusste nicht, was er in diesem Zimmer sollte, nur, dass sie ihn ausgewählt hatte.
»Wein?«, fragte die Vampirin und hielt eine Kristallkaraffe in die Höhe, die sie von einem Glastisch genommen hatte.
»Nein danke.«
»Entspann dich, ich will dich nicht beißen.« Sie lachte. »Jedenfalls noch nicht.« Sie trank einen großen Schluck aus ihrem Glas und beobachtete ihren Partner dabei, wie er das Mädchen aussaugte. »Das sieht köstlich aus.« Sie trat ihre Zigarette auf dem Perserteppich aus und hinterließ dabei ein kleines braunes Loch.
»Jetzt bin ich dran«, sagte sie und drückte Oliver in einen der antiken Sessel. Sie setzte sich breitbeinig auf ihn und küsste seinen Hals. Sie roch nach schwerem, öligem Parfüm und ihre
Weitere Kostenlose Bücher