Gefaehrtin der Nacht
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Die Holiday Cocktail Lounge
I n der Holiday Cocktail Lounge am St. Mark’s Platz in East Village war immer Weihnachten. Die glitzernden Lichter hingen das ganze Jahr über an den Querbalken, silbernes Lametta zierte den Tresen und in der hinteren Ecke stand ein Tannenbaum, dessen Schmuck im dämmrigen Licht funkelte.
Das Holiday, wie die Stammgäste es nannten, war ein New Yorker Original. Die Bar war während der Zeit der Alkoholprohibition eine illegale Kneipe gewesen und zu ihren Stammkunden zählten einst der Dichter W. H. Auden, der nebenan gelebt, und Trotsky, der gegenüber gewohnt hatte.
Niemand hätte genau sagen können, warum die Bar schon so lange existierte. Ihre anhaltende Beliebtheit war etwas Besonderes in einer Stadt, in der es normal war, dass in exquisiten Clubs Tausend-Dollar-Champagnerflaschen serviert wurden. Vielleicht lag es an den individuell gemixten Cocktails – die Barkeeperin schien immer zu wissen, was man trinken wollte – oder an der gemütlichen, ruhigen Atmosphäre, die jeden Gast empfing, der durch die Tür trat. Vielleicht lag es aber auch an den sehnsüchtigen Klängen der Rolling Stones, die aus der uralten Jukebox kamen.
Im Holiday verging die Zeit nicht bloß langsamer, sie kam zum Stillstand, wurde so dick und zähflüssig wie der selbst gebraute Whiskey, der hier ausgeschenkt wurde.
Interessanterweise war die Bar in all den Jahren seit ihrer Eröffnung nicht einmal kontrolliert worden und die Polizei hatte die minderjährigen Stammgäste noch nie in ihre Autos getrieben und auf die Polizeiwache geschleppt. Während benachbarte Lokale regelmäßig ihre Ausschankgenehmigungen und Lizenzen verloren, gedieh und überlebte das Holiday und bediente weiterhin seinen wichtigsten Kundenkreis: die Jungen und Hippen, die Alten und Abgespannten, abgebrühte Journalisten von konkurrierenden Boulevardblättern und Herden von Touristen auf der Suche nach einem »authentischen« New Yorker Erlebnis.
Es war Ende November und die Weihnachtsdekoration würde bald wieder passend sein. Während der Adventszeit fügten die Eigentümer der Bar gern neuen Schmuck hinzu: einen üppigen grünen Kranz, der an die Tür genagelt wurde, farbenfrohe Teppiche, auf denen der Weihnachtsmann und seine Elche abgebildet waren, ein siebenarmiger, jüdischer Leuchter für das Fensterbrett.
Als Oliver Hazard-Perry die Bar an diesem Abend um halb sechs betrat, war der Laden brechend voll. Oliver kannte das Holiday, seit er sich mit vierzehn seinen ersten gefälschten Ausweis zugelegt hatte. Er schlug den Jackenkragen zurück und schob sich an ein paar Stammgästen mit langen Gesichtern und leisen Stimmen vorbei, die genauso langsam an ihren Drinks schlürften wie sie mit ihren Misserfolgen umgingen.
Oliver ließ sich auf dem letzten Platz am Tresen nieder, weit weg von den ausgelassenen Studenten, die schon länger hier waren und bereits die Dartscheibe verfehlten. Auf die Horden der jungen Hedgefonds-Banker, die eifrig ihre American-Express-Karten herumzeigten, übte die Bar keine Anziehungskraft aus – das Holiday nahm sowieso nur Bargeld. Es war eher ein sicherer Hafen im Sturm für all jene, die einen Unterschlupf suchten, ganz gleich was sich draußen vor der Tür abspielte – eine Weltwirtschaftskrise, der Zusammenbruch der Märkte, die Apokalypse –, jeder fand Trost und Zuspruch bei einem Drink an der Bar.
Genau aus diesem Grund kam Oliver hierher. Einfach nur im Holiday zu sitzen, besserte schon seine Stimmung.
»Das Übliche?«, fragte die Barkeeperin.
Oliver nickte dankbar und ein wenig geschmeichelt, weil jemand ihn wiedererkannt hatte. Das war noch nie vorgekommen, aber bis vor einer Woche hatte er die Bar auch nicht regelmäßig besucht.
Die Barkeeperin schob ihm ein Glas des berühmten Whiskeys aus dem Holiday zu. Oliver kippte den Drink hinunter, bestellte einen zweiten und dann noch einen. Beim Trinken dachte er an Skyler. Sie hatte zu ihm gesagt, dass Whiskey dem Geschmack seines Blutes am nächsten kam – es sei wie Salz und Feuer. Oliver kratzte an den Wunden seiner Seele wie am Schorf an seinem Hals. Er mochte es, an den Bissstellen zu pulen, bis sie bluteten. Dann spürte er den Schmerz am stärksten. Er sollte wirklich aufhören, Whiskey zu trinken. Es erinnerte ihn zu sehr an sie. Andererseits erinnerte ihn alles in dieser gottverdammten Stadt an sie.
Es gab kein Entrinnen. Nachts träumte er von ihr, von dem Jahr, das sie gemeinsam verbracht hatten und wie sie
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