Gefallene Engel
und zurückgekämmt zu einer waschechten Elvis-Frisur und mit einem entschlossenen Ausdruck im Gesicht, als er das Mikrophon nahm, versuchsweise ein paar Lockerungsübungen mit der Hüftpartie machte, »Aha-ha …« murmelte und zu singen begann.
Johnny Solheim war ein Jahr älter als wir und hatte in einem grauen Haus gewohnt, das irgendwo an der Grenze zwischen Fritznersmauet und den Brandruinen aus dem Krieg stand. Den kräftigen Körperbau hatte er vom Vater geerbt, der ein Brecher von einem Mann gewesen war, ewig soff und Johnny und die Mutter prügelte, wenn der Rausch nachließ. Es kam nicht selten vor, daß die Mutter – eine verwüstete Schönheit, der ihr Dasein wie ein mißratener Pfannkuchen im Gesicht zu kleben schien – aus dem Haus flüchten mußte, in einem geblümten Morgenmantel und Johnny wie eine Stoffpuppe hinter sich herziehend, während der Vater im ersten Stock aus dem Fenster hing und mit geballten Fäusten drohte und ihnen die wüstesten Schimpfworte nachrief. – Als sei es gestern gewesen, erinnerte ich mich an einen 17. Mai mit kaltem Nordwind und vereinzelten Hagelschauern, als wir nach Hause kamen nach dem großen Umzug, und Johnny und seine Mutter ganz bis zum Nordnesvei geflüchtet waren, während der Vater ihre Möbel durch das Wohnzimmerfenster im Erdgeschoß hinausbeförderte. Der Johnny stand da mit seinem blaßen, rundlichen, verbitterten Gesicht, zeigte dem Vater die geballten Fäuste und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: Ich bring dich um! Ich bring dich um! – Später verschwand der Vater aus ihrem Leben, der Johnny und seine Mutter blieben allein in dem kleinen Häuschen wohnen, und der Johnny reagierte den größten Teil seiner Agressionen auf der Bühne ab: You ain’t nothin’ but a hound dog, crying all the time …
Und jetzt stand er hier, dreißig Jahre später, und sang genau denselben Song:» Well, you ain’t never caught a rabbit – and you ain’t no friend of mine. «
Und er sang ihn nicht schlecht. Die dunkle, volle Stimme hatte noch immer Power, und er kletterte hoch in ein schmeichelndes Falsett, wenn es darauf ankam. Der Rhythmus saß wie Sprungfedern in seinen Beinen, und sein sonst etwas aufgedunsenes Gesicht bekam einen hingebungsvollen Zug von Jugend, wenn er die Songs richtig in sich aufsog. Er machte kleine Sprünge auf der Stelle und benutzte das Mikrophonstativ als eine hervorragende Tanzpartnerin, wo Bella Bruflåt hemmungslos geliebt hatte, mit dem Silbersymbol zwischen ihren Fingern.
Aber er sang mit Gegenwind, und er kam nie aus dem Schatten Bella Bruflåts heraus. Während seines Auftritts verschwand die gebannte Aufmerksamkeit, die während des Auftritts des jungen Mädchens geherrscht hatte. Die Leute begannen wieder zu reden, das Klirren von Besteck setzte wieder ein, und es wurde mehr Bier und Wein bestellt.
Ich warf einen Blick auf Jakob und fuhr zusammen. Hier war einer, der nicht abtrünnig geworden war. Er verfolgte Johnny Solheims Auftritt mit einer Intensität, die eines weit größeren Künstlers würdig gewesen wäre. Seine Augen glühten, die Haut im Gesicht vibrierte, die Lippen bewegten sich im Takt mit den Worten, die Johnny sang, als stünde er selbst da oben, wie sie es früher alle einmal getan hatten, und die Finger um das Bierglas bewegten sich auf und ab auf einer unsichtbaren Skala, einer durchsichtigen Klaviatur.
Ich räusperte mich, aber er reagierte nicht. Ein dünner Schimmer von Schweiß glänzte auf seiner Stirn, und der Adamsapfel schlug den Takt zum Song dort oben auf der Bühne.
Es war eine Form von Eifersucht. Das Mikrophonstativ da oben war einmal Jakobs Tanzpartnerin gewesen, und jetzt lag sie zurückgelehnt in Johnnys Armen und starrte ihm unentwegt in die Augen. Die Musiker hinter ihm waren einmal Jakobs eigene Sparringspartner gewesen, und wir – das gesichtslose Publikum im Saal – hatten auf den Knien gelegen vor seiner Musik, seinem Phrasieren, seinen barocken Rock ’n’ Roll-Paraphrasen. Jetzt gehörten wir anderen, alle, die wir da waren. Und Jakob Aasen saß selbst unter uns, genauso namenlos, genauso bar jeder Kontur, jeder Identität, außerhalb der blendenden Scheinwerfer.
Als der Auftritt vorbei war und Johnny mit einem trägen Winken in unsere Richtung die Bühne verlassen hatte, sagte er leise, wie zu sich selbst: »Warum gefallen den Frauen, die wir lieben, immer Männer, die wir nicht mögen, Varg?«
Ich antwortete nach einer ganz kleinen Denkpause: »Ist es nicht eher
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