Gefallene Engel
umgekehrt? Daß wir die Männer nicht mögen, die den Frauen, die wir lieben, gefallen.«
Und ich begriff, daß ich recht gehabt hatte. Es war tatsächlich Eifersucht gewesen.
Oben auf der Bühne war das Orchester wieder allein. Der Tanzboden füllte sich. Körper lehnten sich an Körper, Blicke suchten nach Blicken, und ein paar saßen allein da, den Blick nach innen gerichtet, mit einem leeren Lächeln auf den Lippen. Wie es immer war, und wie es immer gewesen war.
Dann beugte sich Jakob über den Tisch, während er sich halb vom Stuhl erhob. »Kommst du mit hinter die Bühne, ihm Guten Tag sagen? Dem Johnny?«
»Jetzt?«
»Ja.«
»Okay.«
Wir standen auf und gingen hinter die Bühne, auf der Spur der verlorenen Zeit.
6
Eine lange, schmale Treppe führte in den Keller, wo eine Glühbirne einen engen Gang erleuchtete. In einer Ecke neben einem Waschbecken mit nur kaltem Wasser stand ein Eimer mit Schrubber und Feudel. Es roch nach Waschmittel und uraltem Staub.
»Typische Garderobenverhältnisse für norwegische Restaurantmusiker«, murmelte Jakob und zeigte auf das Waschbecken. »Das ist die Dusche.«
Wir hatten drei Türen zur Auswahl. Über der hintersten hing ein Schild, auf dem NOTAUSGANG stand. Die vordere stand halb offen, und das Licht fiel in einem schmalen Streifen auf den Boden vor uns. Wir traten näher und sahen hinein.
Vier Schminktische und Stühle füllten den größten Teil des Raumes aus. Den übrigen Platz nahmen offene Instrumentenkoffer, Gitarrenschutzhüllen, zwei flache Aktenmappen und eine Kiste mit Bierflaschen ein. An einem Garderobenständer hingen ein paar Wintermäntel und Lammfelljacken. Oben auf der Garderobe lagen zwei Strickmützen, eine Ledermütze und ein brauner, breitrandiger Herrenhut. Auf dem Boden standen ein Paar Gummistiefel, zwei Paar Stiefeletten und ein Paar Cowboystiefel. Auf dem Schminktisch lag eine bunte Auswahl von Lektüre, von der letzten Nummer der dänischen Informationen bis zu einer heimischen Männerillustrierten, einer lokalen Stadtteilzeitung und einem billigen Westernroman.
Die dritte Tür war geschlossen. Jakob machte eine abwehrende Handbewegung und gab ein Zeichen, daß ich mich vorsichtig nähern sollte. Er formte ein Wort mit den Lippen, aber ich verstand es nicht. Es war im Grunde auch nicht nötig.
Durch die geschlossene Tür hörten wir Bella Bruflåts Stimme. »Laß mich los! Nein, hab’ ich gesagt. Ich will nicht!« Nach ein paar Sekunden mit Keuchen und Schnaufen rief sie: »Hier hast du!«
»Uuff!« scholl es dumpf durch die Tür, wie wenn ein Mehlsack aus großer Höhe auf den Boden trifft.
»Altes Schwein!«
Wir sahen uns vielsagend an. Jakob lächelte ein eigenartiges, verkrampftes Lächeln.
»Sollen wir sie aufbrechen, oder …«
Als wüßten sie, was hier vorging, spielte das Orchester in der Etage über uns eine neue Melodie mit dem überzeugenden Refrain: » I can’t get no – Satisfaction! «
Jakob trat an die Tür und klopfte hart an. Nach ein paar Sekunden bewegte er die Türklinke und preßte die Tür nach innen. Sie war abgeschlossen.
Es war ganz still geworden dahinter.
Jakob klopfte noch einmal während er sich selbst mit einem: »Hallo – ist jemand da drinnen?« begleitete.
Niemand antwortete, aber nach einer kurzen Pause hörten wir drinnen schleppende Schritte. Ein Schlüssel wurde gedreht und die Tür einen Spalt geöffnet. Durch die schmale Öffnung starrte uns wütend Johnny Solheim entgegen. Er hatte rote Flecken am dicken Hals, und eine glänzende Haarlocke war ihm in die Stirn gefallen. Der Blick, den er uns schenkte, war der eines Mannes, der allzu plötzlich vom Mittagsschlaf geweckt wurde. Es lag immer noch ein unbestimmbarer Zug von Schmerz um seine geöffneten Lippen.
Er sah erst mich an, dann Jakob. Dann löste sich das Gesicht in einem matten Lächeln. »Jakob? Long time no …«
Jakob sah ihn starr an. »Wir waren im Saal und fanden, wir müßten Hallo sagen. Du erinnerst dich sicher noch an den Varg? Den Veum?«
Er sah wieder mich an. »Den Varg? Den Veum?« Ein dunkles Schimmern erschien in seinen Augen. Er erinnerte sich an mich. Wir erinnerten uns aneinander.
»Hallo, Johnny«, sagte ich.
»Hallo«, antwortete er kurz angebunden. Dann öffnete er die Tür. »Kommt doch rein. Darf ich vorstellen …«
Bella Bruflåt saß auf dem einzigen Stuhl, in derselben Kleidung wie auf der Bühne, die Beine leicht gespreizt und mit unter dem engen, schweißfleckigen T-shirt etwas
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