Gefangen im Terror (German Edition)
sprechen und so musste ich alles für mich behalten. Sie selbst reagierte immer abweisend, wenn ich sie bat, doch mit meinem Vater zu reden, dass ich auf keinen Fall Ruslan heiraten wollte. Ich befürchtete, dass ich eines Tages heimkommen und meine Eltern in Hochzeitsvorbereitungen vorfinden würde.
Als es dann so weit war und Chamil ins Ausland ging, setzte ich meine Mutter unter Druck. Ich drohte ihr, mit Chamil zu verschwinden, wenn sie nicht mit meinem Vater reden würde. Damit hatte ich endlich Erfolg. Ich fürchtete mich vor dem Tag, wo Chamil weggehen würde, weil ich nicht wusste, ob er je zu mir zurückkehren würde. Doch ich hatte mich getäuscht. Obwohl er ein halbes Jahr im Ausland bleiben wollte, musste er schon nach 2 Monaten wieder nach Hause kommen.
Sein Vater war bei einem Verkehrsunfall gestorben und als ältester Sohn war Chamil jetzt das Familienoberhaupt. Er musste die Verantwortung für seine Mutter und Schwestern übernehmen. Chamils jüngerer Bruder Mehmet arbeitete in Tbilisi. Er hatte nicht studiert und war in einer Autowerkstatt beschäftigt. Im Gegensatz zu Chamil verdiente er das Geld für die Familie.
Chamil hatte zwar einen Beruf, aber als Lokalredakteur einer kleinen Zeitung bekam er nur wenig Geld. Trotzdem verfügte er immer über genügend Bargeld. Obwohl ich seine Familie nicht kannte, nahm ich an, dass sie viel reicher waren als wir. Er trug auch immer teure Markenkleidung. Sogar eine goldene Uhr hatte er am Handgelenk.
Natürlich hatte Chamil nach dem Tod seines Vaters noch weniger Zeit für mich und er hatte sich nach seinem Auslandsaufenthalt sehr verändert. Er las alle möglichen Zeitungen, die er auftreiben konnte, darunter auch viele ausländische. Er stellte Vergleiche an und schnitt Artikel aus, die er in einen Ordner sortierte. Als ich diesen Ordner einmal durchblätterte, nahm Chamil ihn mir sofort aus der Hand und sagte: „Fatma, du bist hier nicht zum Lesen“, und nahm mich in seine Arme.
Wenn er bei mir war, sprach er oft von seinen beruflichen Plänen und von seinem Freund Achmed, der es weit gebracht hatte. Viele seiner Freunde waren im Ausland, um Erfahrungen zu sammeln, aber er sagte mir nie, um was für Erfahrungen es sich dabei handelte. Manchmal konnte ich nicht verstehen, was er mir erzählte. Manchmal erzählte er von dem Hass, den alle gegen die russischen Besetzer empfanden und von der Vorstellung, sich davon zu befreien. Ich kannte diese Kampfpläne und Phantasien von meinem Vater und wusste, dass diese Drohungen ein Teil des täglichen Lebens waren. Es hatte mich nie sonderlich beunruhigt, wenn Chamil sich in Rage redete und wüste Verwünschungen gegen die ehemaligen russischen Besetzer ausstieß. Diese Anfälle waren eher selten und Chamil wirkte sonst sehr friedlich auf mich. Ich hatte das Gefühl, dass er mich aufrichtig liebte, denn er verbrachte jede freie Minute mit mir.
Seit ich hier in der Schule festsaß und mit der Gewalt des Terrorismus hautnah konfrontiert wurde, musste ich immer wieder an die Parolen denken, die Chamil in der letzten Zeit von sich gegeben hatte. Er war radikaler geworden, das wurde mir jetzt klar. Auch er hatte manchmal von Befreiungsaktionen für Tschetschenien gesprochen. Ich verstand ihn nicht. Tschetschenien war doch ein freier Staat. Wir hatten eine eigenständige Regierung, einen Präsidenten. Doch wie diese Aktionen aussehen sollten, darüber äußerte er sich nicht. Nie war von einer Geiselnahme die Rede gewesen.
Chamil hatte ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein und ich war stolz auf ihn. Ich stammte zwar aus Beslan, das zu Dagestan gehörte, aber Tschetschenien war sehr nahe bei uns und wir hatten viele Bekannte aus dieser Gegend. Wir ignorierten die Grenze, da wir sie fast täglich passierten.
Chamil hatte zum Thema „Freiheit für Tschetschenien“ in der Vergangenheit viele Artikel geschrieben, die von der kleinen Zeitung, in der er angestellt war, nie gedruckt worden waren. Die meisten hatte ich gelesen und ich war immer überrascht, wie klar er zum Ausdruck brachte, was gut und richtig für sein Volk war. Trotzdem hatte ich ihn nie als Freiheitskämpfer gesehen. Aber seit er mit seinem Freund Achmed viele seiner Abende und oft auch ganze Wochenenden verbrachte, hatte sich der Ton seiner Artikel verändert. Was genau er an diesen Wochenenden unternahm, erfuhr ich nie. Es war mir in der letzten Zeit nur aufgefallen, dass in seinen Artikeln häufiger von aktivem Widerstand und der gerechten Sache des
Weitere Kostenlose Bücher