Gefangen im Terror (German Edition)
Wache antwortet: „Sie brauchen nichts zu verstehen, sie sollen sterben.“ Die Frau schluchzt laut auf.
Als ich das höre, fange ich an zu begreifen, dass es keine Rettung geben wird. Wenn man unschuldige Kinder umbringt, warum sollte man uns Erwachsene dann am Leben lassen. Und wofür werden wir alle sterben?
Auch Ismael wird verdursten, wenn nicht ein Wunder geschieht. Seit der Explosion sitzt er apathisch neben mir, die Beine weit von sich gestreckt, die Arme hängen auf den Boden, der Kopf lehnt schief an der Wand. Er schaut mich nicht mehr an, er fragt nichts mehr, er atmet kaum. Wir sitzen in einer Pfütze aus Urin und Kot. Ich kann nicht einmal mehr weinen. Ich habe keine Hoffnung mehr. Wurden wir von allen vergessen? Wird uns niemand befreien?
Es ist jetzt fast Mitternacht und seit der Detonation der Schwarzen Witwe herrscht trügerische Stille. Ich möchte einfach nur schlafen, um wenigstens für kurze Zeit ins Vergessen einzutauchen. Ist es das Ende meiner Zukunftsträume? Endet mein Leben hier in dieser Schule, bevor es richtig begonnen hat?
Der Kaukasus war seit langem ein Krisengebiet, wo Erschießungen an der Tagesordnung waren und Überfälle auf harmlose Bürger niemanden überraschten. Es gab auch immer wieder Geiselnahmen. Der Terror gehörte zu unserem Alltag, aber eine Geiselnahme von über 1000 Personen und davon mehr als die Hälfte Kinder, war eine so schreckliche Tat, dass damit niemand gerechnet hatte.
Obwohl der Krieg zu Ende gegangen war, als Putin an die Macht kam, waren die Gräueltaten, die unsere Nachbarstadt Grosny dem Erdboden gleichgemacht hatten, nicht vergessen, aber wir hatten sie verdrängt, um weiter leben zu können. Mir war es ein Rätsel, wie die Menschen in dieser Stadt, die bis auf die Grundmauern zerstört gewesen war, neuen Lebensmut schöpfen konnten. Sie hatten sofort mit dem Wiederaufbau begonnen. In der Mitte der Stadt gab es wieder einen wunderschönen Platz mit Blumen und Wasserspielen. Nur Ruinen erinnerten noch an die Zeit vor Putin.
In unserer Stadt war bisher alles im Einklang mit Tradition und Religion gestanden. Natürlich gab es überall Korruption und die Miliz war nicht immer unser Freund. Dass ausgerechnet unsere Schule Ziel eines so grausamen Anschlages werden würde, hatte sich niemand vorstellen können. Plötzlich waren wir Opfer von Gewalttätern, die mit ihrer Tat nur Hoffnungslosigkeit auslösten. Sie sagten uns nicht, was sie mit diesem Vorhaben erreichen wollten. Wir würden sinnlos sterben, für eine Sache, die nicht die unsere war. Aber nicht nur ich, all die Kinder, Eltern, Lehrer unserer Schule mussten tatenlos zusehen, wie die Gewalt unser Leben zerstörte. Wie viele waren schon verletzt oder erschossen worden? Sie konnten doch nicht alle umbringen. Wofür sollten wir alle sterben, wo war der Sinn?
Den Geiselnehmern war ab und zu anzumerken, wie müde sie waren und ihre Aufmerksamkeit nachließ. Sie hängten ihr Gewehr unbedacht über den Stuhl, der in der Ecke stand, oder nagten selbstvergessen an den Fingernägeln. Wenn sie dann ausgetauscht wurden, waren die neuen Terroristen immer sehr munter und wirkten wie aufgezogen. Ich konnte mir das nicht erklären. Nahmen sie Aufputschmittel oder tranken ständig Kaffee?
Anscheinend war die Kommandozentrale im oberen Stockwerk der Schule, denn von dort kamen immer wieder neue Bewacher. Der untersetzte Terrorist war inzwischen von zwei jüngeren Männern ersetzt worden, die dauernd eng beieinander standen und leise miteinander sprachen.
Einer davon war mehr bewaffnet als die anderen. Er hatte ein Dutzend Handgranaten in seinem Gurt stecken und dazu noch ein Bajonett, das mir besonders Angst einflößte. Es war messerscharf und ich stellte mir vor, wie es in eine Brust gebohrt würde. Über der Schulter trug er das übliche Schnellfeuergewehr und in der Hand hielt er eine große Pistole. Er war sehr unruhig, ging immer wieder zur Eingangstür der Turnhalle und schaute hinein. Er zog unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich.
Er wirkte überlegen, nicht nur wegen seiner Waffen, seine ganze Erscheinung war auffälliger. Die übrigen Terroristen waren eher nachlässig gekleidet. Er trug bessere Kleidung, das konnte man auf den ersten Blick sehen. Außerdem war seine Kleidung sauber. Er war groß, schlank und jede seiner Bewegungen verriet Selbstbewusstsein und einen durchtrainierten Körper. Wie Mustafa war auch er ziemlich dunkelhäutig und ich vermutete, dass er arabischer Abstammung war. Er
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