Gefangen
wieder in Gang kommt, fange ich ernsthaft mit dem Auspacken an, lege Carmens Sachen und ihre Kirchengesangbücher in die Schrankfächer, die für mich freigeräumt wurden.
„Wir versuche n … irgendwie wieder normal zu leben, zum ersten Mal seit fast zwei Jahren“, wispert Mr s Daley Carmens Profil zu. „Früher hatten wir oft Gastschüler. Lauren war immer gern mit den Mädchen aus deiner Schule zusammen. Sie ha t … hatte, müsste ich sage n … eine Menge Facebook-Freunde auf der St.-Joseph’s.“
„Wirklich?“, sage ich. Muss ich wissen, was Facebook ist? In meinem Kopf klingelt nichts.
„Ryan“, fährt sie fort, „fällt es sehr schwer loszulassen. Wir haben uns fast damit abgefunde n … natürlich hört man nie auf, sich zu fragen, ob sie gelitten hat, was wirklich passiert ist, wie wir es hätten verhindern können. Aber wi r … Stewart und ic h … wir glauben nicht mehr, dass sie noc h … dass sie noch da ist, in dem Sinn, wie du und ich da sind. Nur Rya n … Ryan hält daran fest, dass sie noch leb t – obwohl alles dagegenspricht. Das wird langsam zu einer fixen Idee bei ihm. Er sagt, er könne sie noch spüren. Er is t …“ Mr s Daley zögert und schaut weg. „Er wurde schon ein paarmal verhaftet, weil er ‚Spuren‘ verfolgt hat, die außer ihm niemand ernst nimmt. Aber es ist unmöglich. Da war so vie l … Blut.“
Mr s Daleys Augen füllen sich mit Tränen, und sie starrt auf etwas am Boden zwischen uns, was ich nicht sehen kann. Ich frage mich, wie sie die Teppiche wieder so weiß gekriegt hat.
„Sie muss sich so verzweifelt gewehrt haben, mein armer Lieblin g …“ Die Frau hält eine Hand vors Gesicht, die Finger zur Faust gekrümmt, und ein dumpfes Stöhnen dringt aus ihrem Mund, bevor sie ganz plötzlich aus dem Zimmer verschwindet. Lautes Türenschlagen im Flur. Ich weiß nicht, warum sie sich die Mühe macht, die Tür zu schließen, denn ihr Weinen hallt durch das ganze obere Stockwerk wie ein Spuk. Gewohnheit, nehme ich an, Höflichkeit.
Muskeln, Sehnen und Gewohnheit, das ist alles, was Laurens Mutter zusammenhält. In was für ein Haus bin ich da nur geraten? Vielleicht bin ich morgen doch nicht froh, in diesem Bett hier aufzuwachen.
Kein erkennbares Muster verbindet die Carmens, Lucys, Susannahs, die ich war oder in Zukunft noch sein werde. Ich weiß nur, dass sie sich in einer ununterbrochenen Kette aneinanderreihen, einer Kette, die weiter zurückreicht als meine Erinnerung. Ich spüre sie alle hier, meine Gastmädchen, eines hinter dem anderen, wie sie um meine Aufmerksamkeit kämpfen, mir etwas über meinen Zustand sagen wollen. Könnte ich sie umstoßen wie Dominosteine, dann würde sich mir vielleicht ein großes Geheimnis offenbaren; aber Menschen sind keine Spielsteine, auch wenn ich mir das manchmal wünsche. Und meine Situation hat ganz und gar nichts Spielerisches.
Als ich in Lucys Körper „wohnte“, „war“ ich eine sechsundzwanzigjährige ehemalige Drogenabhängige und eine alleinerziehende Mutter mit einem gewalttätigen Freund. Als ich ging, war sie bestimmt besser dran als vorher, ehe sich unsere beiden Leben so seltsam ineinander verflochten hatten. Aber am Ende verschwamm alles wie in einem Traum. Ich nehme an, wir haben es mit letzter Kraft geschafft, diesen hoffnungslosen Schläger und Frauenquäler zum Teufel zu jagen, und sind in einer Nacht- und Nebelaktion aus der Stadt geflohen mit dem unterernährten Baby und einem Koffer voll wertlosem Zeug, das kaum das Mitnehmen lohnte. Ich frage mich immer noch, wie es ihr geht und ob sie es diesmal geschafft hat, clean zu bleiben. Für immer und ewig, amen.
Und Susannah? Die brachte am Ende den Mut au f – mit einem kräftigen Schubs von meiner Wenigkei t –, sich gegen ihre ewig jammernde Millionärsmutter zu behaupten und an einem College zu studieren, das weit, weit weg von zu Hause war. Aber hier endet die Geschichte. Jedenfalls für mich. Ich wünsche ihnen beiden alles Gute.
Und das andere Mädchen, dessen Leben ich am Ende gern weitergeführt hätte, aber dessen Namen ich nicht mehr weiß? Es raffte sich schließlich auf, vor der Zwangsheirat zu fliehen, die ihm drohte, und seinen Namen zu ändern. Am Ende fand es eine Arbeit in einem Vorortbuchladen und seine große Liebe in seinem neuen Stammloka l – was es zu einem nicht geringen Teil mir verdankte.
Dieser Teil gefiel mir. Liebe. Sie war unkompliziert und schön. Ganz anders als meine eigene verquere Situation. Aber die
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