Gefangen
Einzelheiten verschwimmen allmählich, zerfransen an den Rändern, und bald wird alles aus meinem Gedächtnis verschwunden sein wie der ganze Rest. Die Erinnerungen sind zum Untergang verurteilt, um nur hier und da kurz aufzuflackern, wenn überhaupt.
Carmen sieht viel jünger aus als ihre Vorgängerinnen und verhält sich entsprechend. Abgesehen von ihrer unangenehmen Hautgeschichte wirkt sie weder unglücklich noch unterdrückt. Vielleicht ist sie wirklich nur hier, um im Chor zu singen. Vielleicht ist nicht sie diesmal in Not, sondern die Familie, bei der sie wohnt. Das macht mich stutzig. Das Gedächtnis ist ein zerbrechliches Gebilde, dem nicht zu trauen ist. Aber das hier ist ne u – eine unerwartete Wendung, eine Unregelmäßigkeit im ununterbrochenen Reigen meiner seltsamen Existenz. So ein Fall ist mir noch nie begegnet, soweit ich es beurteilen kann. Ich muss vorsichtig sein und auf meine Schritte achten.
Immer wenn ich die Mechanik eines neuen Leben s – in diesem Fall dem von Carme n – einigermaßen zu meistern gelernt habe, kehrt unweigerlich der Gedanke zurück, dass da jemand sein könnte, der mir das alles antut. Dass ich eine Art kosmisches Einmal-Experiment bin. Aber wer steckt dahinter? Vielleicht die sogenannten „Acht“? Doch dann frage ich mich, ob diese Acht tatsächlich existieren. Ob Luc existiert. Ob er wirklich ist. Vielleicht gehören auch sie nur zu einer rätselhaften Lektion, die so dunkel und verworren ist, dass ich immer noch nicht weiß, was ich dabei eigentlich lernen soll.
Die einzig e – nicht sehr schmeichelhaft e – Erklärung wäre, dass ich mir das selbst antue, dass ich geisteskrank bin und zu Selbstbetrug, Sprunghaftigkeit und extremer Risikobereitschaft neige. Sollte das stimme n – und ich bete, dass es nicht so sein mög e –, dann könnte mich nichts mehr davon abhalten, mich jedes Mal, in jedem neuen Körper selbst zu überbieten, das schwöre ich bei Gott. Ich will die Wahrheit gar nicht wissen.
Und da fragst du noch, warum ich mich Mercy nenne?
Kapitel 5
Ich habe kaum die Augen geschlossen, da ist er schon wieder bei mi r – mein ureigener Dämon. Aber heute gibt es keine duftenden Mitternachtsgärten, keine kahlen Felshänge von bizarrer, wilder Schönheit und kein Meer aus Wanderdünen im gleißenden Mondlicht. Mit solchen Szenerien will er meine Sinne betören, mich belohnen für erlittenes Unrecht.
Nein, heute empfängt mich nur wirbelndes, brausendes Dunkel, wir beide mittendrin. Ich spüre, dass Luc wütend ist, und eine schwache Regung von kaum erinnerte r … Angst?
Doch selbst jetzt berauscht mich seine goldene Gegenwart, lässt meine Nerven vibrieren, gibt mir mehr Energie, als jedes Ersatzleben es je könnte. Wie Ryan Daley vorher weckt Luc in mir den wilden Drang, ihn anzufassen, aber er hält mich mühelos von sich weg, ohne auch nur einen Finger zu krümmen.
„Natürlich existiere ich“, sagt er, als ob wir ein längst begonnenes Gespräch fortsetzten. „Zweifle nie daran. Und du weißt, wer dich in diese Lage gebracht hat. Du warst nie dumm, also fang jetzt nicht damit an. Das Wissen ist noch in dir, trotz allem, was dir angetan wurde.“
Mir wird schlagartig klar, dass ich schon immer aufbrausend gewesen bin. Seine Worte machen mich entsetzlich wütend, während er mich weiter auf Abstand hält, wo ich doch nur den einen Wunsch habe: dass er mich in seine Arme nimmt.
„Denkst du, ich weiß das nicht?“, fauche ich ihn an. „Mir ist sehr wohl klar, dass ich irgendwann mich selbst und mein Leben in die falschen Bahnen gelenkt habe. Was erwartest du eigentlich noch von mir? Ist das nicht genug, so wie es um mich steht?“
Der weinerliche Ton in meiner Stimme gefällt mir nicht. Das kommt nicht gut rüber. Ich habe uns beide immer als ebenbürtig betrachtet, auch wenn Luc wohl ein Produkt meiner kranken Einbildungskraft ist.
Er lacht, die Dunkelheit hallt von seinem Lachen wider, und sein Zorn lässt vorübergehend nach, obwohl er nicht näher kommt. Er hält uns immer noch auseinander, als bestünde er aus reiner Energie.
„Ich erwarte, dass du die Finger von deinen Gastgebern lässt“, sagt er lächelnd. „Aber du musst alles tun, um mich zu finden. Bis jetzt hast du leider versagt. Du hast alles falsch verstanden.“
Ich runzle die Stirn. Das mag sein, aber wie soll ich sonst die Lucys, Susannahs und Carmens überstehen? Das Leben dieser Mädchen ist in den meisten Fällen die Hölle, und trotzdem soll ich es
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