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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Lim
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ertragen, ohne einen Finger zu rühren?
    „Genau da liegt doch das Problem“, fauche ich, und in der kalten Dunkelheit regt sich wieder der unerklärliche Schmerz in meiner linken Hand. „Ich weiß ja nicht mal, wie ich mich selbst finden sol l – wie zum Teufel soll ich da dich finden? Außerdem frage ich mich langsam, ob du mir diese Mühe überhaupt wert bist.“ Der letzte Satz soll ihn treffen, ihm wehtun.
    Lucs schöner Mund kräuselt sich zu einem schiefen Lächeln. Meine Hand schmerzt noch mehr. Ich lüge natürlich: Er ist der Mittelpunkt, das Herz meiner abgehobenen Welt, meines abgehobenen Lebens. Trotzdem tut es mir gut, ihn zu kränken. Früher habe ich ihn nicht so herausgefordert, und ich lese Verwunderung, ja, Missbilligung in seiner zerstreuten Miene.
    „Tu nichts“, sagt er wieder. „Dann finde ich dich.“
    Jetzt ertönt ein lautes Krachen, wie Donner, und ich erwache allein in Laurens blütenweißem Bett. Die eisigen Frühwinde fegen den Split durch die staubigen Straßen und vertrockneten Gärten von Paradise, wie Regen, wie das Gefühl in meinem geborgten Herzen.
    „Und? Wie war’s bei dir?“, fragt die rattengesichtige Blonde aus dem Bus mit ihrer harten, schrillen Stimme.
    Es ist Montagmorgen und wir sitzen in der ersten gemeinsamen Chorprobe unseres zweiwöchigen „Kulturaustauschs“ mit der Paradise High. Das Ganze soll in der Aufführung des ersten Teils von Mahlers 8 . Sinfonie in Es-Dur gipfeln. Mit anderen Worten: Ein Chor jugendlicher Stimmen wird die Sinfonie der Tausend vor einem „Kennerpublikum“ von ortsansässigen Farmarbeitern, Fischern, kleinen Geschäftsleuten und Eltern in die weite Welt hinausbrüllen. Ich weiß das nur, weil ich gestern nach einem schweigsamen Abendessen mit den Daley-Elter n – Ryans Abwesenheit sprach für sic h – eine Stunde lang in Carmens Sachen nach Hinweisen gesucht habe, was sie hier tun soll. Das Stück ist sehr anspruchsvoll für einen Laienchor, zumal die meisten Schüler nur gezwungenermaßen mitmachen und ein Großteil von ihnen wahrscheinlich unmusikalisch ist. Außerdem ist uns wohl irgendwie ein ganzes Sinfonieorchester abhandengekommen.
    Eins steht jedenfalls fest: Mahler ist nichts für Amateure. Carmens Noten sind gespickt mit handschriftlichen Anmerkungen und Symbolen, die ich nicht kenne. Ich hatte jegliches Interesse verloren, ehe ich herausfand, wo der Chor überhaupt einsetzen soll. Mein Plan für die nächsten zwei Wochen? Einfach so tun, als würde ich mitsingen, und hoffen, dass niemand was merkt. So schwer kann es doch nicht sein, sich in der Masse zu verlieren.
    Und „Masse“ ist keine Übertreibung. Um acht Uhr morgens sind in der Halle mehr Leute versammelt, als ich je für möglich gehalten hätte. Paradise macht nicht den Eindruck, als könnte es auch nur fünfzig einigermaßen musikalische Nachwuchssänger aufbieten, geschweige denn die gut zweihundert Jungen und Mädchen, die sich hier ungeniert taxieren. Die Chorprobe gleicht eher einem Fleischmarkt und Carmens Gruppe mischt kräftig mit. Die Luft knistert nicht nur, sie brodelt.
    „He, was ist? Spinnst du schon wieder?“, zischt Rattengesicht misstrauisch, als ich nicht gleich antworte.
    Ich werfe einen Blick auf das Deckblatt ihrer Partitur, das der Name „Tiffany Lazer“ in einer Wolke aus Herzchen und Blumen ziert. Das passt zu ihr: flauschig und giftig zugleich.
    „Nein“, sage ich lässig. „Bin nur dabei, die Hotties hier abzuchecken, äh m … Tiff.“
    Das war der richtige Ton, denn Tiffany taut sofort auf. „Apropos Hotties: Jetzt sag doch mal, wie’s war! Dieser Ryan Daley soll ja ein richtiger Knaller sein, superguter Body, aber leider ein ziemlicher Psycho, so was wie ’ne tickende Zeitbombe. Ich war erst total eifersüchtig, als ich gesehen habe, wen du kriegst. Aber jetzt bin ich froh, dass es nicht mich erwischt hat. Ist dir klar, dass du bis zum Hals in einem Mordfall steckst? Wie abartig ist das denn!“
    Im Stillen danke ich Carmen für ihr Tagebuch, das ihre Hassliebe zu Tiffany und ihrer versnobten Clique erklärt. Soweit ich sehen kann, ist die Freundschaft zwischen Carmen und Tiffany durch einen verqueren Machtkampf vergiftet, obwohl die beiden nichts gemeinsam haben außer dem Singen. Ein paar von den anderen St.-Joseph’s-Mädchen hängen wie gebannt an Tiffanys Lippen und saugen jedes Wort auf, das sie von sich gibt, während sie mich von oben bis unten mustern. Das gibt mir einen Stic h – die arme Carmen, warum ist

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