Gefangen
wispert die böse Stimme in mir. Ich liebe alles Schöne, seit jeher.
„Was zum Teufel gibt es da zu grinsen?“, brüllt Rya n – es kann nur Ryan sein.
Carmen wäre jetzt vermutlich in Tränen ausgebrochen. Aber nicht mit mir. Ich mustere den Typ von oben bis unten, immer noch lächelnd, immer noch in meinem Handtuch, das ich trage wie einen Haute-Couture-Fummel. Das Bedürfnis, ihn zu berühren, ist fast körperlich, wie Durst, wie Hunger. Aber ich habe Angst, mich wieder zu verbrennen, und die Gefahr, dass genau das geschehen könnte, ist groß. Es gibt einen guten Grund, warum ich mich nicht gern anfassen lasse oder andere berühre: weil es dem Unerwünschten Tür und Tor öffnet.
Also stemme ich meine Hände in die Hüften und starre ihn aus Carmens trüben, grün gesprenkelten Augen an. „Ich überlege mir nur gerade“, sage ich kühl, „wie du wohl im Bett bist.“
Kapitel 4
Ryan schaukelt auf seinen Fersen zurück. „Okay, das überhör ich jetzt mal. Sag mir lieber, was du hier drin zu suchen hast“, herrscht er mich nach einer geschockten Pause an. „Dieses Zimmer ist tabu.“
„Ry-an!“, ruft Mr s Daley, die in der Tür aufgetaucht ist und den letzten Satz unseres Wortwechsels gehört hat.
„Ryan“, wiederholt sein Vater, der sich schützend vor mich stellt. „Carmen ist Gast in unserem Haus. Wir haben doch alles besprochen. Du weißt, dass das längst überfällig war.“
Wie alt kann er sein?, frage ich mich, den Blick immer noch fasziniert auf Ryan geheftet. Achtzehn? Neunzehn?
Ich mache keinen Versuch, mit den Eltern in Kontakt zu treten, weil ich immer noch Ryan abchecke. Niemand bringt mich dazu, die Dinge zu überstürzen, wenn ich nicht will. Ich kann unglaublich stur sein. Das Leben ist schließlich kurz genug, und ich bin auf meinen letzten dreißig Ausflügen niemandem begegnet, der wie Ryan Daley aussah. Abgesehen von Luc, der sowieso unerreichbar bleibt, ist Ryan Daley der Größte. Ein echtes Sahnestück.
Als ich immer noch nichts sage oder mache, dreht Ryan sich um und faucht seine Mutter an: „Sie lebt noch, verstehst du? Sie lebt! Und da lässt du die hier rein? Bist du übergeschnappt oder was?“
Dann ist er verschwunden und sein Vater stürzt ihm nach. Die Tür knallt zweimal kurz hintereinander, danach ist das Haus wieder still.
Mr s Daley setzt sich zitternd auf das blütenweiße Bett, während ich mir hastig ein T-Shirt aus Carmens Sporttasche über den Kopf streife und einen Slip unter dem Handtuch anziehe, bevor ich es zum Trocknen über einen Stuhl hänge. Nicht, dass ich mich geniere oder unbedingt den Anstand wahren will, aber Mr s Daley ist so etwas wichtig, das kann ich sehen. Förmlichkeiten sind das Einzige, was sie aufrechterhält, sonst würde sie in tausend Stücke zerspringen. Ich krame noch eine Weile in der Tasche herum und finde eine Jeans, die aussieht, als ob sie einem kleinen Jungen gehört. Zu meiner Überraschung passt sie wie angegossen.
„Stewart sagt, sie hätten es dir erzählt“, murmelt Mr s Daley. „Das über uns, meine ich. Stimmt doch?“
Ich schüttle den Kopf, obwohl ich mir zusammenreimen kann, dass es um ein vermisstes Mädchen geht und irgendjemand die geniale Idee hatte, mich in seinem Zimmer unterzubringen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, und Carmen auch nicht, das steht ihr ins Gesicht geschrieben. Aus diesem Grund stecke ich den Kopf in den Schrank und tue so, als ob ich etwas suchen würde, während Mr s Daley sich räuspert.
„Wir habe n … ä h … keine Gäste mehr aufgenommen, seit unsere Tochte r … Laure n … weggegangen ist“, sagt sie. Dann verbessert sie sich mit brüchiger Stimme: „Ich meine: entführt wurde.“
Ich werfe ihr einen raschen Blick zu. Ihre Augen sind knallrot in dem kreideweißen Gesicht, und ich fürchte mich vor dem, was sie als Nächstes tun wird. Gefühle sind vertrackt, so wirr, so unrein, sie können jederzeit aufbrechen und dich verätzen wie Säure. Ich schaue weg, konzentriere mich schnell wieder auf Carmens Sporttasche, auf das bunte Durcheinander von Habseligkeiten, die obenauf liegen. Seltsames Zeug, das ihr anscheinend wichtig is t – zum Beispiel der Frosch-Schlüsselring und der platt gedrückte, weiche Plüschhase, grau und stellenweise kahl, der eindeutig bessere Tage gesehen hat. Sogar ein pinkfarbenes Glitzitagebuch mit Schloss und Schlüssel hat sie eingepackt. Kleinmädchen-Kram, der zu der Kinderjeans passt.
Als Mr s Daleys gequälte Stimme
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