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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Lim
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es ihr nur so wichtig, was die anderen von ihr denken?
    Und da heißt es immer, dass Mädchen kein Blut sehen können. Mein unverbindliches „Oh!“ kommt ein bisschen schneidender heraus als beabsichtigt.
    Aber Tiffany hört nur, was sie hören will, und verspritzt prompt ihr ganzes Gift über Ryan Daley, der ihrer Meinung nach in eine geschlossene Anstalt gehörte. Der Typ sei total abartig und spiele die ganze Zeit Detektiv, bespitzele alle Leute, von denen er glaube, sie hätten etwas mit der Entführung seiner Schwester zu tun.
    „Sie wurde einfach aus ihrem Schlafzimmer entführt“, verkündet Tiffany, als der Musiklehrer der Paradise High mit seinen Wurstfingern auf das Podiumsmikrofon tippt. Er heißt Masson und ist ein ältlicher, kleiner Mann mit wildem Haar und Brille. Die Leute zucken zusammen, so brutal ist der Rückkoppelungseffekt, den er auf dem Mikrofon ausgelöst hat, aber sie reden trotzdem sofort weiter. Zwei hektische Punkte erscheinen auf M r Massons Wangenknochen.
    „Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass jemand eingebrochen ist“, fährt Tiffany unbeirrt fort.
    Daher also das unsichtbare Kraftfeld, von dem M r Daley neulich auf dem Parkplatz umgeben war! Die meisten Einwohner von Paradise glauben wahrscheinlich an ein Familiendrama. Das würde wenigstens annähernd erklären, weshalb Louisa Daley einer wandelnden Toten gleicht und kurz vor der Implosion steht wie eine sterbende Sonne. Zweifel können so zermürbend sein.
    „Lauren war Sopran wie wir“, fügt Tiffany hinzu. „Blond, hochintelligent und schön. Das ganze Programm.“ Sie mustert mich von oben bis unten, als wollte sie sagen: „Mit anderen Worten, alles, was du nicht bist, Baby.“
    Ich frage mich wieder, warum Carmen sich so verzweifelt danach sehnt, von diesem Miststück beachtet zu werden.
    „Alle an der Paradise High machen einen großen Bogen um Ryan“, sagt Tiffany, als M r Masson erneut versucht, sich Gehör zu verschaffen. „Er ist ein durchgeknallter Außenseiter, der reinste Sprengcocktail, und noch dazu hat er ein Gewehr. Ein paar Leute haben ihn sogar damit rumballern sehen. Und es heißt, da war überall Blut.“
    Die beiden Statements stehen völlig zusammenhanglos nebeneinander. Es sei denn, man ist so bösartig und stellt eine Verbindung her.
    Carmen runzelt die Stirn, was auf mein Konto geht. „Dann glauben die Leute also, dass Ryan vielleicht was mit dem Verbrechen zu tun hat?“, frage ich. „Dass es der Vater war? Oder der Sohn? Dass beide mit drinstecken? So eine abartige Inzestgeschichte? Vielleicht weiß die Mutter was?“
    Tiffany nickt begeistert. „Pass gut auf dich auf, Carmen. Ich an deiner Stelle würde nachts kein Auge zutun.“
    Sie grinst das Mädchen an, das auf der anderen Seite neben ihr sitzt, als sei ich gar nicht da. Da kannst du lange warten, dass sich jemand auf dein dürres Knochengestell stürzt, soll das heißen. Ich weiß genau, was sie denken.
    „Na ja, danke jedenfalls für die Info“, sage ich kühl und starre das andere Mädchen nieder, das verlegen wegschaut. Carmen hat ihr noch nie einen bösen Blick zugeworfen, da bin ich mir sicher. Es ist ein gutes Gefühl, deshalb starre ich gleich noch ein paar andere niede r – nur so zum Spaß, bis alle Soprane der St.-Joseph’s plötzlich ihre Augen überall haben, nur nicht bei mir.
    „Betrachte es als Sozialdienst“, sagt Tiffany lachend, ohne Carmens schneidende Kälte oder die betroffenen Gesichter ihres Hofstaats wahrzunehmen. Tiffany kriegt eben nie was mit.
    „Und stell dir vor, die haben extra noch Schüler von Little Falls und Port Marie für diese musikalische Soiree hergekarrt“, plappert sie weiter. „Aber das hilft nichts, es wird trotzdem beschissen klingen.“
    Dann springen wir fast an die Decke vor Schreck, weil M r Masson die alte Musikanlage so laut aufdreht, dass uns beinahe der Kopf platzt. Zuerst ertönt ein gewaltiges Orgelbrausen, gefolgt von der Ouvertüre eines riesigen Orchesters. Plötzlich fangen alle an, wie wild in ihrer Partitur zu blättern, alle suchen verzweifelt die Anfangstakte vo n … ähm, oh, ja, der Hymne Veni, creator spiritus . Muss man das kennen? Ich nicht. Die Noten sind mir immer noch ein Buch mit sieben Siegeln, so wie gestern Abend. Wo setzt noch mal der Chor ein?
    Ich werfe einen Seitenblick zu Tiffany, die geradeaus nach vorne zu M r Masson schaut und auf ihren Einsatz wartet. Allzeit bereit und in tadelloser Haltung. Genau nach dieser Perfektion sehnt sich

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