Gefangene der Welten
mitsamt Mieder.
Der Stoff fühlte sich kühl auf ihrer Haut an und raschelte leise, als sie ihn über den Kopf streifte. Es erstaunte sie, dass das Kleid die richtige Größe hatte. Mit einer weichen Bewegung strich sie die Falten glatt und betrachtete sich in dem Spiegel über dem Waschtisch. Eine Flucht wäre in diesem Aufzug nicht gerade unauffällig. Das Kleid betonte jede Kurve ihres Körpers und insbesondere das Grün ihrer Augen wurde durch das sanfte Grün des Stoffes noch unterstrichen. Wie sollte sie in diesem Aufzug auf einen der Karren kommen, die das Burgtor passierten? Besorgt biss sie sich auf die Lippen.
Plötzlich riss sie ein leises Klopfen aus ihren Gedanken.
Es war Maria. Das junge Dienstmädchen trat ein und schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Madame, Ihr seht wundervoll aus, wenn Ihr erlaubt!“ Sydney lächelte angespannt. „Ich habe Euer Amulett gesäubert, Madame“, fuhr Maria fort und hielt ihr die Kette hin, die sie vor ihrem Bad abgelegt hatte. Der Edelstein erstrahlte in ganz neuem Glanz und verzückt griff Sydney danach. „Danke!“ Sie verspürte tatsächlich Dankbarkeit darüber, dass man sich um ihre Kette gut gekümmert hatte. Sie war das einzige Schmuckstück, das ihr von ihrer Mutter geblieben war. Sie wollte sie nicht verlieren. Maria nickte und dirigierte Sydney auf den kleinen gepolsterten Stuhl vor dem Waschtisch, um ihr die Kette umzulegen und sich den Haaren zu widmen. Das kühle Metall ruhte zwischen dem Ansatz ihrer Brüste und nahm rasch ihre Körperwärme an. Mit einem Blick auf das Amulett in dem Spiegel, erinnerte sie sich daran, wie sie in den Besitz dieser Kette gekommen war.
~
Alles war voller Blut, so viel Blut!
Sydney schluckte und spürte, wie das Grauen nach ihr greifen wollte. Sie starrte den kleinen Körper an; unfähig den Blick zu lösen und hörte entfernt, wie der Fahrer des Wagens in sein Mobiltelefon sprach. Seine Stimme gab keinen Hinweis darauf, dass er schuld war. Unsicher trat sie näher an den reglosen Körper heran. Der blonde Schopf ihres Bruders war kaum mehr zu erkennen. Nur eine kleine Strähne schimmerte golden im Licht des Sonnenuntergangs. Direkt neben ihm blieb sie stehen und beugte sich zu ihm hinab.
„Sydney, Kind, um Gottes Willen, bleib‘ da weg!“
Ein Ruck ging durch ihre Schulter, als ihre Mutter sie wegzog, bevor sie Timothy berühren konnte. Rasch presste sie Sydneys schlanken Körper gegen ihre Brust und schlang die Arme um sie. Was war da nur geschehen? Eben lachte Timothy noch voll kindlichen Übermuts und einen Wimpernschlag später war alles furchterregend still. Sydney lag in den Armen ihrer Mutter und ließ zu, dass deren Tränen ihr Haar nässten. Der Griff um ihre Schultern war unangenehm fest, doch Sydney rührte sich nicht. Zu grässlich war das Bild, das sich in ihrem Kopf für immer eingebrannt hatte.
Dies war das letzte Mal gewesen, dass Sydney die Arme ihrer Mutter um sich spürte. Sie hatten den Tag in Schweigen gehüllt verbracht und als Sydney abends auf ihr Zimmer ging, um sich schlafen zu legen, hatte ihre Mutter sie zurückgehalten. Ihre Augen waren rotgerändert und ein trostloser Ausdruck war in die grünen Augen getreten.
Sydney sah sie an und wartete an ihrer Zimmertür, als ihre Mutter mit einer kleinen dunkelgrünen Schatulle näher trat. „Ich habe etwas für dich.“, sagte sie und gab ihr das kleine Kästchen. Neugierig sah Sydney es sich an. Es fühlte sich überraschend schwer in ihrer Hand an und strahlte eine außergewöhnliche Wärme aus. „Es ist ein altes Erbstück“, erklärte Kassandra ihrer Tochter. „Ich habe es von meiner Mutter erhalten und sie von ihrer Mutter. Alle Frauen in unserer Familie haben dieselben Augen und dieses Schmuckstück wurde nur aus diesem Grunde ausgewählt.“ Sydney öffnete die Schatulle und starrte fasziniert die funkelnde Kette mit dem Smaragd an.
~
„Euer Amulett ist sehr hübsch, Madame.“ Maria betrachtete Sydney im Spiegel, während sie mit dem Kamm durch das dichte Haar fuhr. Sydney lächelte. „Ja, das ist es.“
Wenige Minuten später war Maria fertig und begleitete Sydney zum Frühstück. Froh darüber, das Zimmer endlich verlassen zu können, folgte Sydney ihr bereitwillig.
In Gedanken versuchte sie, sich den Weg einzuprägen und sich daran zu erinnern, wie man die große Halle erreichte, doch es nutzte nichts. Die Gänge verliefen scheinbar ohne vernünftiges System und das Einzige, dessen sie sich sicher sein konnte, war die
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