Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
herauf benötigt haben.«
Aeriel merkte, wie sie noch mehr errötete, und um den Widerspruch zu bekämpfen, der ihr auf der Zunge lag, biss sie sich auf die Lippe. Schön, sie war linkisch und unsicher, aber keineswegs lahm. Und Eoduin wusste das. Aeriels Handknöchel am Korb wurden weiß. Dann sah sie auf und blickte in Eoduins sorglos lächelndes Antlitz. Aeriels Augen verengten sich und wurden stechend. In solchen Momenten, wo Eoduin sie mit der Bezeichnung »Lahme« zu quälen versuchte, hasste sie ihre Herrin. Diesmal jedoch schien die Gehässigkeit unabsichtlich gewesen zu sein. Aeriel entspannte sich, und ihr Gesicht nahm wieder seine normale Farbe an.
»Mach dir keine Sorgen «, beschwichtigte Eoduin sie freundlich. »Ich werde mich auch nicht verirren und du auch nicht, wenn du immer schön bei mir bleibst.«
Aeriel seufzte wieder, verscheuchte ihre trüben Gedanken und stapfte weiter hinter Eoduin her. Die Sonne schien warm auf ihren Rücken, doch wenn der Pfad hinter einem Felsvorsprung verschwand, war der Schatten kälter als klares Quellwasser. Als der Pfad immer enger wurde, ließ sie einen Korb von ihrer Hüfte gleiten und das unförmige, aber leichte Flechtwerk aus Schilfgras gegen die Beine baumeln. Langsam stiegen die beiden bergan.
Sie betrachtete die Landschaft und die Farben der Felsen. Sie lauschte dem Geläut des Glockendorns, einem silbrigen feinen Heidekraut, das wie Glas im sanften Bergwind klang. Sie beobachtete die kleinen rot gefärbten Eidechsen, die sich in den letzten Sonnenstern-Stunden sonnten, ehe sie für eine neue lange Nacht in ihren Felsenspalten verschwanden: Sie betrachtete auch die Versteinerungen im Fels, Abdrücke von Fischen, Schalentieren
und Wasserpflanzen, aus Zeiten, als das Gebirge nur aus Schlick und Schlamm bestanden hatte und von Wassermassen bedeckt gewesen war.
»Hier, hier sind welche!«, rief Eoduin und blieb so unvermittelt stehen, dass Aeriel beinahe in sie hineingelaufen wäre. Aeriel betrachtete den niedrigen Blütenteppich zu ihren Füßen, während Eoduin die Umgebung absuchte und in eine Richtung zeigte. »Und da oben am Hang wachsen noch mehr.«
Die beiden standen knapp unterhalb des Berggipfels, und Aeriel rang mühsam nach Luft. Der Himmel wirkte schwärzer hier oben, die Sonne weißer, die Erde blauer und die Sterne strahlender. Unten erkannte sie die hell glänzende Dunstschicht, die auf den Hügeln und über der Ebene lag.
»Du pflückst diese Blumen hier«, sagte Eoduin und nahm ihren Korb wieder. »Ich pflücke die anderen weiter oben.«
Die Luft war so dünn, dass Aeriel Eoduins Stimme kaum noch hören konnte. Obwohl ihre Herrin schrie und Aeriel nur einen Schritt von ihr entfernt stand, waren die leiseren Worte kaum zu verstehen. Sie antwortete deshalb nur mit einem Nicken.
»Du hast doch eine Flasche mitgenommen, nicht wahr?«, fragte Eoduin und griff nach ihrer eigenen, die sie an einer Schnur um den Hals trug. Es war ein einfacher Wasserschlauch, zwei Handspannen lang und aus weißem Ziegenleder gefertigt, mit einem Elfenbeinstöpsel und einer Schnur mit bemalten Knochenstücken versehen. Aeriel nickte und klopfte auf ihre weniger kunstvoll verzierte Flasche.
»Also gut!«, schrie Eoduin leise, wie aus weiter Ferne. »Bleib in Sichtweite! Lauf nicht herum! Und verschütte nichts! « Aeriel
nickte. Eoduin warf den Korb über die Schulter und ging noch die letzten zwanzig steilen Schritte bis zum Gipfel hinauf. Aeriel beobachtete den leichtfüßigen Anstieg ihrer Herrin, wie sie, um Gleichgewicht bemüht, sich mit der freien Hand an Felsen und Gesteinsbrocken abstützte, und wünschte, sie wäre ebenso langgliedrig, selbstbewusst, schön und von edler Geburt. Sie setzte ihren Korb an, kniete sich neben den Blumenteppich und begann, die Blumen einzusammeln.
Die Trichterblumen wuchsen auf kleinen silbrig grauen Büschen hoch oben auf den höchsten Berghängen, dort, wo die Luft gefährlich dünn war und kein Lüftchen sich regte, das sie zerstören konnte. Jeder Zweig trug winzige, gelblich weiße, trompetenförmige Blüten, die durchsichtig wie Eiskristalle aussahen. Und jeder Blütenkelch war mit einem winzigen Tropfen einer mattgoldenen Flüssigkeit gefüllt, die süßer als Ingwer und aromatischer als Rum schmeckte.
Aeriel zog stets nur eine Blüte behutsam vom Zweig. Die Kunst bestand darin, nacheinander die Blüten so zu nehmen, dass weder beim Pflücken noch beim Abstreifen in die Flasche einer der kostbaren Tropfen vergeudet
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