Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
entfernt, so deutlich den Gesang zu hören. Aeriel lauschte den Worten, die durch das harte Licht der Dämmerung zu ihr drangen.
»Farra atwei, farra atwei.
Narett, miri ummi hardue …«
Hier unten, im flachen Hügelland, kurz vor dem Dorf, war der Pfad breiter, bequemer und weniger abschüssig. Schon dutzendmal war sie diesen Weg gegangen: im Frühjahr zum Elritzenfang, zum Spielen in den Höhlen, zum Pilzesammeln und noch vor sechs Stunden gemeinsam mit Eoduin, als sie das Gebirge erklommen.
Aeriel verzog beim Gedanken an ihre Herrin voller Trauer das Gesicht. Eoduin hatte sie einst aus einem der dunklen Weiher gezogen, in den sie gestürzt war; an den Haaren hatte Eoduin sie herausgezogen, hatte nass und zitternd neben ihr gekniet und sie so lange massiert, bis sie eine ganze Ladung bitteren Wassers erbrach. Das war vor zwei Jahren gewesen. Aeriels Kopf schmerzte, als sie an den Höhlen vorbei zum Dorf eilte. Sie wollte nicht an Eoduin denken, sondern nur an die Musik, die an ihr Ohr drang.
»Thyros idil temkin terral,
Ma’amombi tembril ferral …«
Die Worte klangen jetzt näher und lauter. Sie hatte endlich das Dorf erreicht. Die quadratischen, weiß getünchten Ziegelhäuser erstrahlten im Licht der untergehenden Sonne, und an den dunklen Fenstern wehten sanft die Festtagsgirlanden. Die große, von Osten nach Westen verlaufende Straße bildete eine einzige Lichtschneise, die kleineren Seitenstraßen hingegen, die alle in nordsüdlicher Richtung verliefen, lagen in Dunkelheit.
»Anntuin dantuwyn tevangel hemb,
Letsichel mirmichel gamberg an rend …«
Vorbei an den Häusern beschleunigte Aeriel ihren Schritt und sah nun den Dorfplatz vor sich voller Menschen. Plötzlich befand sie sich in der Menge, die sie gar nicht zu beachten schien und unbeeindruckt, den Blick gegen die untergehende Sonne gewandt, im Gesang fortfuhr. Aeriel drängte durch die Menschen und stieß einen lauten Schrei aus, damit man auf sie aufmerksam wurde.
Mitten im Vers brach der Gesang ab. Der Dorfälteste stand vor der Braut und dem Bräutigam und runzelte die Stirn. Die festlich gekleidete Braut blickte sich verwundert um. Hinter ihr und dem Dorfältesten entdeckte Aeriel Eoduins Mutter, eine schmalgesichtige Aristokratin mit pechschwarzem Haar. Die alte Bomba stand schwankend neben ihr und nickte schläfrig. Aeriel starrte die beiden Frauen an.
»Eoduin!«, keuchte sie atemlos.
Der Dorfälteste, Eoduins Vater, trat aus dem Schatten ins Helle. »Ja?«, fragte er. »Wo ist sie? Die Zeremonie kann ohne den Brauttrunk nicht beendet werden.« Er sah die Flasche an Aeriels Hals. »Hat sie dich damit vorausgeschickt?«
»Sie …«, sagte Aeriel und rang verzweifelt nach Atem. »Nein, sie …«
»Nun, wo ist sie denn?«, fragte der Dorfälteste und stülpte seinen fein geschnittenen Mund vor. Und nach einem verärgerten Seufzer sagte er: »Wie dieses Mädchen immer herumtrödelt! « Er wandte sich wieder an Aeriel, seine Geduld war erschöpft. »Nun, heraus mit der Sprache, Aschenbrödel! Oder soll ich dich auspeitschen lassen?«
»Sie ist fort!«, schrie Aeriel und wunderte sich, dass er sie auch jetzt noch nicht verstand. »Der Ikarus«, stotterte sie, »das geflügelte Wesen …«
Der Dorfälteste schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nimmst du mich auf den Arm, Aschenbrödel? Nun sag schon, wo ist meine Tochter? Wo ist Eoduin, deine Herrin?«
Aeriel sah ihn an und wünschte, dass ihr die Sinne schwänden. Er starrte sie an und wollte nicht verstehen. Alle Dorfbewohner musterten sie jetzt. Ihr Kopf war so leicht, er schmerzte. Sie fühlte, wie sie das Gleichgewicht verlor. Sie schwankte und stolperte. Der Dorfälteste sah sie mit plötzlichem Misstrauen an.
»Hast du etwa vom Nektar der Trichterblumen gekostet, Mädchen? «
Aeriel begegnete seinem Blick mit verständnislosem Erstaunen.
»Ich habe mir den Kopf gestoßen«, murmelte sie und berührte die blutverklebte Stelle hinter ihrem Ohr.
Sie fühlte plötzlich etwas Weiches und Steifes in ihrem wirren Haar. Und als sie es vom Blut befreit hatte, hielt sie eine pechschwarze Feder von fünf Zoll Länge in der Hand. Den ganzen Weg über hatte sie in ihrem Haar gesteckt, ohne dass sie es gemerkt hatte. Diese plötzliche Erkenntnis überfiel sie wie ein kalter Schatten.
Sie schauderte, als sie auf das Ding starrte. Sie spreizte die Finger, aber die Feder klebte am Schweiß ihrer Handfläche fest. Sie schüttelte ihre Hand, trotzdem blieb sie, schwarz und blutverschmiert,
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