Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
daran haften. Aeriel konnte das Gefühl nicht länger ertragen und riss die Feder mit einem kräftigen Ruck ab.
Der letzte Lichtstrahl des Sonnensterns erlosch wie das zuckende Flämmchen der Kerze, und der Platz versank in sanftem Dämmerlicht. Es wurde Nacht. Noch dunkler war die Feder des Vampirs, ein schwarzer Strich, der sich auf Aeriels bleicher Haut scharf abzeichnete. Niemand trat auf sie zu. Niemand machte Anstalten, ihr zu helfen. Sie stieß einen langen, verzweifelten Schrei aus und fiel in Ohnmacht.
2
Rache
W er wird den Vampir töten?«, fragte Aeriel leise. Doch die Vehemenz ihrer Worte überraschte sie. Sie kniete neben den breiten, niedrigen Fenstern des leeren Alkoven, direkt vor dem leeren Zimmer der Färber. Die Nacht draußen war dunkel und still. Sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Nie hätte sie geglaubt, eine solche Bitterkeit empfinden zu können.
Sie dachte an die langen schlaflosen Stunden nach Sonnenuntergang, als sie die alte Bomba besucht hatte, die wie immer bei den Dienstmägden saß. Die anderen flüsterten über sie oder huschten geräuschlos durchs dunkle Zimmer. Bomba hatte ein kaltes nasses Tuch auf ihre Stirn gelegt. Die Zeit verstrich. Und dann hatte Eoduins Mutter, des Dorfältesten Weib, den Raum betreten. Die Mägde wichen ehrfurchtsvoll vor ihrer Herrin zurück, die sich mit bleichem Gesicht über Aeriel beugte und schrie: »Nun ist sie also wach! Warum hat es mir niemand gesagt? Deinetwegen ist meine Tochter tot, du Miststück!« Das Haar der Frau war wirr, ihre eingefallenen Wangen tränenbedeckt, der magere Leib in Trauerkleidung gehüllt. Ihr Gesicht
glich dem Eoduins, es war nur älter. Drohend hielt sie den langen Zeigefinger auf Aeriel gerichtet. »Warum konntest du meine Tochter nicht beschützen? Du hättest dein Leben für das deiner Herrin geben müssen.« Ein Schluchzen erschütterte ihre Brust. »Warum hat der Vampir nicht dich statt meiner Tochter genommen? «
Und dann schlug sie sie plötzlich, so dass Aeriel die Tränen in die Augen schossen. Die Dienerschaft murmelte bestürzt; der Dorfälteste kam kurzatmig ins Zimmer geeilt und zog seine Frau beiseite. »Geh weg da, meine Liebe! Solche Schmerzensausbrüche sind nicht schicklich. Du stellst dich nur vor der Dienerschaft bloß …« Dann beugte sich Bombas mächtiger Körper wieder über Aeriel. Sanft tätschelten ihre Finger Aeriels brennende Wange, begleitet von ihrem monotonen Gemurmel: »Da, da, Kindchen, da, da!«
Vom Alkovenfenster aus starrte Aeriel hinaus in die Nacht. Seit ihrer Genesung ging sie Eoduins Mutter möglichst aus dem Weg. Sie dachte viel an Eoduin, ihre Herrin, der sie treu gedient hatte, fast noch ehe sie laufen gelernt hatte. Lebhaft stand ihr das Bild noch vor Augen: Die kindliche Adelstochter, die zwölf Sommer zuvor mit ihrem Vater den Sklavenmarkt besucht hatte, sich dieses und jenes wünschte und dann auf sie, Aeriel, zeigte, damit ihr Vater sie kaufen solle. Seitdem war Eoduin ihre ständige Gefährtin gewesen, mehr Freundin als Herrin, wenn auch eine stolze und hochfahrende Freundin. Aber ihre einzige Freundin.
Aeriel seufzte bitter. Nun war alles anders. Jetzt, wo seine Tochter tot war, würde der Dorfälteste Aeriel so bald wie möglich verkaufen, sie hatte die Dienerschaft murmeln hören, dass
seine Frau es gefordert hätte. Aeriel dachte an den Sklavenmarkt in Orm, an die Gebote und Gegengebote, die Ketten, Gefangenenhütten und Schläge. Hier im Hause des Dorfältesten hatte Eoduin sie immer beschützt.
Man würde sie nach Norden, tiefer ins bergige Inland verkaufen, dessen war sie sich sicher. Hier, am Rande der Ebene, wurden die Leibeigenen meistens rücksichtsvoll behandelt. Im bergigen Kernland dagegen war es schlimmer: Man erzählte sich Schauergeschichten von zu Tode geprügelten und gequälten Sklaven … Der Gedanke daran ließ sie erzittern, Aeriel schloss die Augen vor der Dunkelheit da draußen. Ohne Eoduin kann ich nicht leben, dachte sie. Lieber sterbe ich, als auf dem Sklavenmarkt von Orm verkauft zu werden.
Sie verbot sich, weiter daran zu denken, und wandte sich anderen Dingen zu. Schon sangen die Barden Lieder über die unglückliche Tochter des Dorfältesten, die von dem Vampir geraubt wurde und jetzt seine todgeweihte Braut war. Doch trotz all des Singens, Seufzens und Flüsterns der letzten vierzehn Tage brachte es keiner von Eoduins Freunden oder Verwandten fertig, in die Berge zu gehen und dem Mörder entgegenzutreten. Das ist
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