Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
getrennt und eine Welt der Isolation geschaffen – jedenfalls war das die allgemein akzeptierte Ansicht. Ashaya hatte immer gewusst, dass es eine Lüge war.
Amaras wegen.
Und jetzt auch Keenans wegen.
Keenan und Amara. Ihre beiden Schwächen, das doppelschneidige Schwert, das Tag und Nacht über ihr hing. Nur ein einziger Fehler, und es würde auf sie niederfahren.
Hinter ihr ging die Tür auf. „Ja, bitte?“, fragte sie ruhig, obwohl ihr Geist von Erinnerungen überflutet wurde, die normalerweise hinter einer undurchdringlichen Wand versteckt waren.
„Ratsherr LeBon hat angerufen.“
Ashaya wandte sich zu der schlanken, blonden Frau um. „Vielen Dank.“
Ekaterina nickte und verschwand. Sie hüteten sich davor, innerhalb dieser vier Wände verräterische Worte auszutauschen. Zu viele Augen ruhten auf ihnen. Zu viele Ohren hörten mit. Ashaya stellte den hellen Monitor auf Kommunikationsmodus und nahm den Anruf an. Sie selbst konnte nicht mehr nach draußen telefonieren. Nach der Flucht der Kinder hatte man die völlige Abschottung des Labors beschlossen, obwohl die beiden offiziell als tot galten – Ashayas Händen zum Opfer gefallen.
Doch Ming war misstrauisch, das wusste sie. Um sie zu quälen, hatte er sie in dieses Grab aus Kunststoffbeton eingeschlossen; viele Tonnen Erde lagen über ihr, und er wusste, dass sie aufgrund eines psychologischen Defekts den Gedanken nicht ertragen konnte, lebendig begraben zu sein. „Ratsherr“, sagte sie, als Mings Gesicht auf dem Bildschirm erschien, die nachtschwarzen Augen des Kardinalmedialen sie anblickten. „Was kann ich für Sie tun?“
„Ihr Sohn sollte Sie in dieser Woche besuchen.“
Ashaya konzentrierte sich darauf, ihren Puls normal schlagen zu lassen – sie spürte noch Nachwirkungen über die plötzliche Trennung von Keenan. Um ihren Plan auszuführen, musste sie kalt wie Eis bleiben, tiefer in Silentium sinken als der Rat selbst. „Das ist Teil der Vereinbarungen.“
„Der Besuch wird sich verzögern.“
„Warum?“ Ihre Macht war zwar sehr beschränkt, aber sie befand sich auch nicht völlig in Mings Gewalt – er wusste genauso gut wie sie, dass sie die einzige M-Mediale war, die Programm 1 fertigstellen konnte.
„Der biologische Vater des Kindes hat einen Antrag auf eine spezielle Ausbildung gestellt. Ihm ist stattgegeben worden.“
Ashaya wusste genau, dass Zie Zen einen solchen Schritt niemals getan hätte, ohne sich vorher mit ihr abzusprechen. Aber dieses Wissen sagte ihr leider nicht, ob Keenan tot oder noch am Leben war. „Die Verzögerung wird meine Ausbildung des Jungen schwieriger gestalten.“
„Die Entscheidung ist bereits gefallen.“ Mings Augen wurden ganz schwarz, die wenigen weißen Sterne verschwanden völlig. „Sie sollten sich auf Ihre Forschungen konzentrieren. In den letzten beiden Monaten hat es keine nennenswerten Fortschritte gegeben.“
Zwei Monate. Acht Wochen. Sechsundfünfzig Tage. So viel Zeit war seit der Flucht der beiden Kinder vergangen … seitdem war sie in diesem Implantationslabor lebendig begraben.
„Ich habe das Problem der statischen Störungen gelöst“, erinnerte sie Ming, während sie die bedrohlich wachsende Enge in ihrer Brust wahrnahm – eine Stressreaktion. Keenans plötzliches Verschwinden hatte Risse in ihrer geistigen Rüstung hinterlassen. „Kein Implantat kann funktionieren, wenn es permanent mit den Gedanken anderer bombardiert wird.“ Der Rat hatte vor, das Medialnet in ein großes kollektives Gehirn zu verwandeln, ohne Abgrenzung voneinander. Dann würde es keine Abtrünnigen mehr geben, nur noch ein einziges, einheitliches Denken.
Aber eine solche reine Konformität war nicht erstrebenswert. Einfacher gesagt, ein kollektives Gehirn war nur lebensfähig mit einer Königin an der Spitze. Weshalb man Ashaya angewiesen hatte, unterschiedlich ausgerüstete Implantate zu entwickeln. Die am höchsten entwickelten würden ihren Trägern eine vollkommene Kontrolle über alle anderen Individuen verschaffen, sie würden sogar in jeden Kopf des kollektiven Gehirns eindringen und die anderen wie Marionetten in jede Richtung lenken können. Eine Privatsphäre gab es dann nicht mehr, abweichende Meinungen wären ein Ding der Unmöglichkeit.
Ming nickte kurz. „Ihr Erfolg bei den statischen Störungen war wirklich beeindruckend, kann aber die fehlenden Fortschritte seitdem nicht kompensieren.“
„Bei allem Respekt“, sagte Ashaya, „da kann ich Ihnen leider nicht zustimmen.
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