Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
Bislang hat niemand auch nur ansatzweise etwas Ähnliches geschafft. Theoretisch wurde die Eliminierung der statischen Störungen immer als unlösbares Problem angesehen.“ Ashayas Gedanken überschlugen sich, während sie einen weiteren vorsichtigen Schritt auf dem straff gespannten Seil machte. Wagte sie sich zu weit vor, würde Ming sie ohne Zögern töten. War sie zu zaghaft, würde er das als Schwäche auslegen und über ihre Fähigkeiten auch ohne ihre Zustimmung verfügen. „Ich kann den Prozess beschleunigen, wenn Sie wollen. Aber wenn die Implantate dann versagen, sollten Sie nicht mir die Schuld geben. Ich möchte, dass das schriftlich festgehalten wird.“
„Wollen Sie mich denn zum Feind, Ashaya?“ Ming stellte diese Frage ganz leise, fast tonlos, und doch legte sich die Drohung dahinter wie ein dunkler Schatten auf ihren Geist. Ließ Ming bereits seine geistigen Muskeln spielen? Da er ein Kardinalmedialer mit besonderen Fähigkeiten im geistigen Zweikampf war, war das mehr als wahrscheinlich. Mit einem einzigen Gedanken konnte er ihr Gehirn in Brei verwandeln.
Wenn sie ein Mensch oder Gestaltwandler gewesen wäre, hätte Ashaya vielleicht Furcht empfunden. Aber sie war eine Mediale, von Geburt an konditioniert, nichts zu empfinden. Diese stabile, unerschütterliche Konditionierung ermöglichte ihr nicht nur die taktischen Spielchen mit Ming, sondern war auch der Schild, hinter dem sie Geheimnisse verbarg, die sie niemals enthüllen durfte. „Es geht hier nicht um Feindschaft, Sir“, sagte sie und traf rasch eine weitere Entscheidung – sie ließ die Schultern ein wenig sinken und stieß die nächsten Worte wie unter großer Erschöpfung aus. „Ich habe wirklich alles versucht, doch ein großes Problem ist aufgetaucht, und da ich die Einzige bin, die in der Lage ist, es zu lösen, habe ich rund um die Uhr daran gearbeitet, seit zwei Monaten eingesperrt unter der Erde, ohne Zugang zum Medialnet …“
„Sie müssen sich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen.“ Mings Blick hatte sich verändert, er wirkte beunruhigt. „Wann haben Sie zuletzt geschlafen?“
Ashaya rieb sich die Schläfen. „Ich kann mich nicht erinnern. Hier unten habe ich Schwierigkeiten mit der Zeit.“ Eine Schwäche wie Klaustrophobie hätte bei den meisten Medialen zur „Rehabilitation“ geführt, ihre Erinnerungen wären ausgelöscht, ihre Persönlichkeit zerstört worden. Man hatte Ashaya nur deshalb in Ruhe gelassen, weil ihr Gehirn in unzerstörtem Zustand mehr wert war. Noch.
„Ich glaube, vor einer Woche habe ich das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen.“ Ihre Aufzeichnungen würden das beweisen. Sie hatte ihren Schlafrhythmus absichtlich verändert, um ihre Geschichte glaubhaft klingen zu lassen … im Vertrauen auf das Ehrgefühl eines Menschen.
… wir zahlen unsere Schulden …
Aber selbst wenn der Scharfschütze sein Wort gehalten hatte, musste etwas schiefgegangen sein. Ihren rein theoretischen Überlegungen einer anderen Möglichkeit zum Trotz war Keenan höchstwahrscheinlich tot. Ashaya ließ die Arme hängen und sah Ming an, ließ die eigenen Züge wie vor Müdigkeit erschlaffen. Wenn Keenan tot war, hatte sie nichts mehr zu verlieren und konnte ihren Plan gleich in die Tat umsetzen.
„Ich schicke ein Team“, sagte Ming. „Man wird Sie zu einem Spezialisten bringen.“
„Nicht nötig.“ Ashaya schloss die Hand um ihren Organizer, das schmale Gerät, das sämtliche Daten zu ihrer Person und ihren Untersuchungen enthielt. „Jemand aus meinem Team kann mich untersuchen – wir haben alle eine medizinische Ausbildung.“
„Ich möchte, dass Sie sich einer vollständigen Untersuchung im Zentrum unterziehen.“
Wollte er ihr drohen? Ins Zentrum schickte man defekte Mediale zur Rehabilitation. „Ming, wenn Sie der Meinung sind, ich sei in einem kritischen Zustand, dann seien Sie doch so höflich, mir das direkt ins Gesicht zu sagen. Ich bin kein Kind mehr, das schreiend wegläuft.“ Obwohl Mediale ab dem ersten Lebensjahr selbstverständlich kaum noch schrien. Ob Keenan am Ende geschrien hatte? Sie griff fester zu, das kalte, harte Gehäuse des Organizers gab ihr Halt. Silentium, sagte sie sich, du befindest dich vollkommen in Silentium. Eine eiskalte Maschine ohne Gefühle, ohne Herz. Etwas anderes konnte sie gar nicht sein.
Mings Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. „Wir unterhalten uns nach der Untersuchung weiter.“ Der Bildschirm wurde dunkel.
Ihr blieben höchstens
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