Gefesselte Lust
erwidert meinen Händedruck. »Ich befürchte eher, ich war der Grund für Ihre Misere, weil ich Sie erschreckt habe. Nennen Sie mich doch bitte Marcus.«
Ich bin nicht ganz sicher, womit ich diese Ehre verdient habe, aber ich nicke wieder. »Ich bin Helena.«
Er scheint damit zufrieden zu sein und nickt. »Darf ich dich dann als Entschuldigung und Einstand bei B-Touch zum Essen einladen?«
Überrumpelt starre ich ihn an. »Ich … ist das …«
»Hast du keinen Hunger?«
Mein Magen, der laut in mir grollt, weil ich ihn seit dem Frühstück vernachlässigt habe, nimmt mir jede Antwort ab. Marcus grinst und deutete auf meinen Corsa. »Warte hier, ich hole nur schnell mein Auto. Du kannst dann hinter mir herfahren.«
Gesagt, getan – nur knapp zwanzig Minuten später finde ich mich in einem Restaurant Unter den Linden wieder und bekomme den Mund schon wieder nicht zu. Vor mir auf dem Teller liegt ein derart kompliziertes Gericht, dass ich den Namen bereits wieder vergessen habe. Mir gegenüber sitzt Marcus und isst, als säßen wir nicht in einem teuren Nobelrestaurant, sondern in einer Currywurstbude.
»Hast du dich denn bereits in der Redaktion eingelebt?«, fragt er zwischen zwei Bissen.
Ich breche mir ein Stück Brot ab. »Schon. Allerdings ist hier alles ein wenig … anders. Größer.«
Marcus schmunzelt. »Berlin hat diese Wirkung oft auf Menschen, die das erste Mal hier sind.«
Seine Worte versetzen mir einen Stich. Ich schüttle den Kopf. »Ich bin nicht das erste Mal hier. Eigentlich komme ich ursprünglich aus Berlin.«
Er hebt erstaunt die Augenbraue. »Was hat dich weggeführt?«
Ich lege das Brot auf den Tellerrand, ohne auch nur einen Bissen davon genommen zu haben. Meine Kehle fühlt sich trocken an. Ich spreche sonst nie darüber, aber Marcus scheint wirklich an meiner Geschichte interessiert zu sein. Seit meinem Umzug nach Berlin bin ich noch nicht dazu gekommen, mir neue Freunde zu suchen und, um ehrlich zu sein, ich habe mich auch nicht darum bemüht. Aber jetzt wird mir bewusst, dass es mir fehlt, mich mit jemandem auszutauschen oder mich einfach nur ein bisschen zu unterhalten. »Mein Vater hatte einen kleinen Dachdeckerbetrieb. Die Geschäfte liefen ganz gut, bis meine Mutter krank wurde. Die Behandlung verschlang fast alle Einnahmen aus dem Geschäft, und mein Vater musste einen Kredit aufnehmen.«
Ich blicke auf meinen Teller. Wie ich es so erzähle, klingt es irgendwie belanglos, fast banal. Doch das war es nicht; das war es ganz und gar nicht. Ich habe noch immer das Bild meiner Mutter vor Augen, ausgezehrt, nur noch ein blasses Skelett auf dem Krankenhausbett. Mein Vater, der nachts weint und versucht, es vor mir zu verbergen. Ich spüre einen Stich in der Brust – eine lang vergrabene Erinnerung, aber sie schmerzt wie am ersten Tag. »Es stellte sich heraus, dass die Bank, bei der mein Vater sich Geld geliehen hatte, ihn betrogen hatte. Er überschrieb ihnen den Betrieb und unser Haus als Sicherheit, hat aber niemals auch nur einen Cent gesehen. Als er Anzeige erstatten wollte, legte die Bank gefälschte Papiere vor, laut denen eindeutig eine Zahlung an meinen Vater geleistet wurde. Auf diese Weise verloren wir alles; meine Mutter hatte sich zwar wieder erholt, aber mein Vater verfiel in Depressionen. Wir zogen fort. Meine Mutter verließ meinen Vater kurz darauf und nahm mich mit.«
Ich zucke mit den Schultern als würde das alles weit hinter mir liegen. Eine Lüge, denn die Wunden sind noch lange nicht vernarbt, nicht einmal nach gut zwölf Jahren.
Eine warme Hand legt sich auf meine; ich zucke zusammen. »Das hat dich sehr mitgenommen, nicht wahr?«
Alles, wozu ich fähig bin, ist ein kraftloses Nicken. Es ist mir peinlich, dass mein Boss mich so sieht, aber ich kann es nicht verhindern. Nach einer Weile habe ich mich zumindest so weit im Griff, dass ich wieder aufsehen kann. »Ich möchte jetzt gerne heimfahren. Danke für den netten Abend«, murmele ich und verlasse das Restaurant, bevor Marcus mich zurückhalten kann.
In den kommenden Wochen bin ich so mit Arbeit beschäftigt, dass ich keine Zeit habe, an Jonah oder Marcus zu denken. Aliyah teilt mir immer wieder neue Aufgaben zu, die meine gesamte Konzentration erfordern, sodass der erste Monat in meinem neuen Job fast wie im Flug vergeht.
Überstunden sind keine Seltenheit, genau wie meine Kollegin es mir prophezeit hat, aber es stört mich nicht. Ich liebe meinen Job. Berlin selbst birgt für mich jedoch
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