Gefesselte Lust
noch zu viele schmerzliche Erinnerungen. Ich möchte von der Stadt so wenig sehen und hören wie möglich und verbringe meine Zeit gerne im Büro.
Abends eile ich immer direkt in meine Wohnung, esse, schlafe und dusche, um am nächsten Tag gleich wieder zurück in die Redaktion zu fahren. Meist bin ich die Erste im Büro, und es kommt nicht selten vor, dass ich als Letzte aus unserer Etage gehe.
An diesem Morgen balanciere ich meinen Papp-Kaffeebecher, diverse Magazine zur Recherche und meine Handtasche auf dem Arm, während ich versuche, den Türcode einzugeben und gleichzeitig die Eingangstür aufzudrücken. Das geht nicht gut – gerade, als ich mit dem Rücken an der Tür lehne und versuche, nicht den Becher und die Magazine zu verlieren, schwingt die gläserne Pforte auf, und ich taumle rückwärts in die Empfangshalle.
Vor Schreck fällt mir alles aus den Händen, während ich das Gleichgewicht verliere und den Boden unaufhaltsam auf mich zurasen sehe. In dem Moment packen mich zwei Hände und halten mich mit einem Ruck fest, noch bevor ich aufschlagen kann. Als würde ich nichts wiegen, werde ich wieder auf die Füße gestellt und starre in die blauen Augen von Jonah Winter. »Helena, du musst vorsichtig sein!«
Für einen Moment blitzt so etwas wie Besorgnis in seinem Gesicht auf, aber das kann unmöglich sein – Jonah Winter würde sich niemals Sorgen wegen irgendeiner Büromaus aus seiner Redaktion machen. Seit unserer ersten Begegnung haben wir nicht mehr direkt miteinander zu tun gehabt. Bis auf die Konferenzen, in denen er am anderen Ende des großen ovalen Tisches sitzt und meist schweigend die neusten Vorschläge und Entwürfe begutachtet, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Zu diesen Gelegenheiten muss ich mich immer beherrschen, ihn nicht anzustarren. In seinem Anzug, an diesem riesigen Tisch, erinnert er mich immer an einen König aus alter Zeit, weit entfernt von den einfachen Menschen und nahezu unwirklich schön. Einsam und stark zugleich.
Ich starre ihn noch immer an und merke erst jetzt, wie nah wir uns sind. Hastig mache ich mich los, ehe seine Ausstrahlung mir die Sinne raubt. »Entschuldigung«, hauche ich atemlos und bücke mich, um eilig die verstreuten Unterlagen und Magazine einzusammeln. Der Deckel des Bechers ist abgesprungen und die milchige Flüssigkeit hat sich über den gesamten Boden verteilt. Zum Glück ist der Rest meiner Sachen trocken geblieben.
Geschmeidig kniet Jonah sich zu mir, ohne die Pfütze zu berühren, und reicht mir einige Mappen. Peinlich berührt nehme ich sie entgegen. »Danke«, murmle ich und wage es kaum, ihm in die Augen zu sehen.
»Helena.« Himmel, wenn er meinen Namen sagt, spüre ich jedes Mal ein Schaudern – seine Stimme ist wie ein sanftes Streicheln, eine hauchzarte Berührung, die ich kaum spüre und die doch jeden einzelnen meiner Sinne reizt. Ich sehe auf. »Ja?«
Er erwidert meinen Blick. »Ich meine es ernst – sei vorsichtig.«
»Ich versuche es, Herr Winter.«
Er musterte mich. »Ich heiße Jonah«, sagt er nur und wendet sich dann ab, um hinauf in sein Büro zu fahren. Ich bin zu verdattert, um mit ihm in den Aufzug zu steigen. Noch immer liegt mir seine Stimme im Ohr, und es dauert lange, ehe ich mich dazu bringen kann, wieder einen Schritt nach vorn zu machen.
Zum ersten Mal bin ich während meines Arbeitstages unaufmerksam und fahrig. Meine Gedanken schweifen immer wieder zu der Begegnung mit Jonah Winter ab. Zum Glück ist Aliyah an diesem Tag auf einer Konferenz in München, weswegen ich alleine im Büro bin und meine Fehler schnell korrigieren kann. Das hätte mir zu meinem Glück noch gefehlt, nachdem ich derart mit meinem Boss zusammengeprallt bin – Aliyah, die mit einer Mischung aus Neugierde und Besorgnis Fragen stellt und so lange nicht lockerlässt, bis ich vor lauter Panik nicht mehr ein noch aus weiß, zu einem Kaninchen werde, das von den Lichtern des herannahenden LKWs geblendet wird und nicht mehr rechtzeitig weghoppeln kann.
So fühle ich mich gerade tatsächlich; wie ein verflixtes Kaninchen, das sich einfach nicht von der Stelle rühren kann. Meine Gedanken kreisen nur noch um eine einzige Sache, oder vielmehr um einen einzigen Mann, und das ist Jonah Winter. Die Art und Weise, wie er mich an diesem Morgen angesehen hat … Seine Hände scheinen noch immer auf meiner Haut zu liegen, und sobald ich die Augen schließe und meine Gedanken schweifen lasse, kann ich deutlich sein Aftershave mit seinem
Weitere Kostenlose Bücher