Gefrorene Seelen
überreichte er Grace Legault seine Karte. Dafür erntete er freilich keinen Dank von der skeptischen Journalistin.
»Detective Cardinal«, sagte sie, als er sich schon abgewandt hatte. »Kennen Sie zufällig die Legende vom Windigo? Wissen Sie, was für eine Gestalt das ist?«
»Ja, selbstverständlich«, sagte Cardinal. »Das ist so was Mythisches.« Er seufzte innerlich. Damit würde sie groß rauskommen. Grace Legault spielte in einer anderen Klasse als Gwynn. Sie litt nicht gerade an mangelndem Ehrgeiz.
»Sind Sie hier fertig?«, fragte er Collingwood, als er und Delorme wieder am Eingang zum Schacht standen.
»Fünf Filme verschossen. Arsenault will trotzdem noch ein Video machen.«
»Da hat Arsenault Recht.«
Um den Eisblock hatte man bereits Gurte geschlungen. Nun wurde ein Flaschenzug, der mit einer elektrischen Winde verbunden war, in Stellung gebracht. Ein Foto fürs Album, dachte Cardinal, als der Block knapp einen Meter hochgehievt wurde und wie ein durchscheinender Sarg mitsamt der geschundenen menschlichen Kreatur darin über dem Fundort schwebte.
»Meinen Sie nicht, dass wir die Leiche abdecken sollten?«, raunte Delorme.
»Das Beste, was wir für das Mädchen tun können«, erwiderte Cardinal gelassen, »ist, sicherzustellen, dass alles, was die Gerichtsmediziner in dem Eisblock finden werden, schon drin war, bevor wir die Leiche fanden.«
»Ich verstehe«, sagte Delorme, »eine dumme Idee von mir, nicht wahr?«
»Ja, allerdings.«
»Tut mir leid.« Eine Schneeflocke fiel ihr auf die Augenbraue und schmolz. »Ich dachte nur, als ich sie so sah …«
»Vergessen Sie’s.«
Collingwood filmte unterdessen von mehreren Seiten den in der Luft schwebenden Eisblock. Dann blickte er von seiner Videokamera auf und sagte genau zwei Wörter:
»Ein Blatt.«
Arsenault nahm den Eisblock genauer in Augenschein. »Ein Ahornblatt, wie mir scheint. Jedenfalls ein Stück davon.«
Die Wälder des Nordens in der näheren Umgebung bestehen vor allem aus Kiefern, Pappeln und Birken.
»Segelt jemand von euch hier in der Gegend?«, erkundigte sich Cardinal.
Arsenault meldete sich. »Meine Frau und ich waren vergangenen August zu einem Picknick hier in der Gegend. Wir können das noch überprüfen, aber wenn ich mich recht erinnere, ist dieganze kleine Insel mit Strauchkiefern und Fichten bewachsen. Und natürlich jede Menge Birken.«
»Das denke ich auch«, pflichtete Cardinal bei. »Was wiederum für die Annahme spricht, dass sich der Mord irgendwo anders ereignet hat.«
Delorme rief wieder die Gerichtsmedizin an und teilte mit, der Transport beginne jetzt, die Leiche werde voraussichtlich in vier Stunden eintreffen. Dann bewegten sie die sterblichen Überreste mitsamt dem Eis den verschneiten Hang zum Ufer hinunter, wo der Lkw bereitstand.
Sterbliche Überreste, dachte Cardinal. Der Ausdruck passte nicht so richtig.
5
S ergeant Lise Delorme hatte schon vor geraumer Zeit begonnen, ihren Abgang aus der Abteilung für Sonderermittlungen zu organisieren, genauer gesagt, seit ein paar Monaten. Kein größerer Fall blieb unabgeschlossen, doch viele Kleinigkeiten waren noch zu klären. Abschließende Bewertungen waren zu formulieren, Aufstellungen zu aktualisieren, Akten abzulegen. Ihr Nachfolger sollte alles in tadelloser Ordnung vorfinden, wenn er am Ende des Monats ihre Stelle übernehmen würde. Doch der ganze Vormittag war verstrichen, ohne dass sie zu mehr gekommen wäre, als sensible Daten von der Festplatte ihres Computers zu löschen.
Delorme konnte es nicht erwarten, endlich an dem Fall Pine zu arbeiten, auch wenn sie sich in der verqueren Situation befand, gegen ihren Partner ermitteln zu müssen. Bis jetzt sah es so aus, als wollte Cardinal sie auf Distanz halten, und das konnte sie ihm nicht verargen. Auch sie hätte niemandem getraut, der sich gerade aus der Abteilung für Sonderermittlungen, die schließlich auch interne Delikte umfasste, verabschiedete.
Mit einem Anruf zu nachtschlafender Zeit hatte alles begonnen. Zuerst hatte sie gedacht, es wäre ihr Exfreund Paul, der sich zweimal im Jahr betrank und dann, sentimental und weich geworden, um zwei Uhr nachts bei ihr anrief. Es war aber Dyson. »Besprechung beim Chef in einer halben Stunde. Bei ihm zu Hause, nicht in seinem Büro. Halten Sie sich bereit, ein Mounty wird Sie abholen. Der Chef will vermeiden, dass gewisse Leute Ihr Auto in der Nähe seines Hauses sehen.«
»Was ist denn los?« Ihre Stimme klang noch verschlafen. »Das
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