Gefrorene Seelen
zu jeder sich bietenden Gelegenheit, oft noch von einem Schulterklopfen begleitet, ein dröhnendes Lachen erschallen. Nach Delormes Ansicht lachte er zu oft; es wirkte nervös, was er vielleicht tatsächlich war. Sie hatte aber auch erlebt, wie seine zuvorkommende Art im Nu verschwinden konnte. Wenn nämlich irgendetwas R. J. Kendalls Zorn erregte, was Gott sei Dank nicht oft geschah, konnte er ein schreckliches Donnerwetter loslassen. Das ganze Dezernat war Zeuge gewesen, wie er Adonis Dyson wegen der zu schwachen Besetzung der Polizei beim Winterkarneval abgebürstet hatte, mit dem Ergebnis, dass die Angelegenheit an die große Glocke kam und auf der Titelseite des
Lode
alle möglichen falschen Spekulationen zu lesen waren.
Und doch hatte Dyson weiterhin eine hohe Meinung von Kendall, so wie die meisten anderen Mitarbeiter, die er einmal in die Mangel genommen hatte. Wenn sein Zorn verraucht war, war für ihn die Angelegenheit erledigt, und gewöhnlich machte er auch von sich aus eine Geste, um die Wogen zu glätten. In Dysons Fall war er so weit gegangen, bei einem Fernsehinterview den Rückgang der bewaffneten Raubüberfälle Dyson zugute zu halten. Das war weit mehr, als sein Vorgänger getan hätte.
Dyson selbst saß in einem der roten Ledersessel und unterhielt sich mit jemandem, den Delorme nicht sehen konnte. Er winkte ihr nur mit schlaffer Hand zu, als ob mitternächtliche Besprechungen für ihn Routine wären.
Der Chef sprang auf und schüttelte Delorme die Hand. Er musste Ende fünfzig sein, hatte aber einen jungenhaften Charme, wie er manchen einflussreichen Männern eigen ist. »Sergeant Delorme. Danke, dass Sie so rasch und auf die Schnelle gekommen sind. Darf ich Ihnen einen Drink anbieten? Außerhalbder Dienstzeit dürfen wir es ruhig ein bisschen lässiger angehen.«
»Nein, vielen Dank. So spät in der Nacht würde mich das regelrecht umhauen.«
»Dann kommen wir gleich zur Sache. Hier ist jemand, den ich Ihnen gern vorstellen möchte. Corporal Malcolm Musgrave von der RCMP.«
Der Anblick, den Corporal Musgrave bot, als er sich aus dem roten Ledersessel erhob, erinnerte an ein Naturschauspiel: ein Berg, der aus der Ebene emporwuchs. Er hatte mit dem Rücken zu Delorme gesessen, daher erschien zuerst der Granitblock seines Schädels, hellblondes Haar, das zu einer Bürste gestutzt war. Dann folgten der Steilabfall seiner Schultern, die breite Felswand seines Brustkorbs, als er sich zu ihr umwandte, und schließlich das Gesteinsmassiv seines Händedrucks, der trocken und kühl wie Schiefer war. »Ich habe schon von Ihnen gehört«, sagte er zu Delorme. »Die Überführung des Bürgermeisters, das war gute Arbeit.«
»Sie sind für mich auch kein Unbekannter«, erwiderte Delorme, was ihr einen finsteren Seitenblick von Dyson einbrachte. Musgrave hatte in Ausübung seines Dienstes zwei Männer erschossen. Beide Male kam es zu Verhandlungen wegen exzessiver Gewaltanwendung, und in beiden Fällen blieb er ungeschoren. Das ist mir der Richtige, dachte Delorme.
»Corporal Musgrave gehört zum Polizeikommando Sudbury. Er ist dort stellvertretender Leiter des Dezernats für Wirtschaftskriminalität.«
Delorme wusste das selbstverständlich. Die RCMP unterhielt kein Kommando mehr in der Stadt, daher fiel Algonquin Bay nun in die Zuständigkeit von Sudbury. Als Bundespolizei zog die RCMP alle Kriminalfälle von nationaler Bedeutung an sich: landesweiter Drogenhandel, Geldfälscherei, Wirtschaftskriminalität. Hin und wieder arbeitete die Polizeitruppe von Algonquin Bay bei größeren Drogenrazzien mit der RCMP zusammen, dochsoweit Delorme wusste, war Musgrave dabei nie in Erscheinung getreten.
»Corporal Musgrave hat uns eine Gutenachtgeschichte mitgebracht«, verkündete der Chef. »Sie wird Ihnen nicht gefallen.«
»Haben Sie schon mal von Kyle Corbett gehört?«, fragte Musgrave. Seine Augen, so schien es Delorme, waren von einem hellen, fast durchsichtigen Blau. Man hatte den Eindruck, von einem Husky angestarrt zu werden.
Natürlich hatte sie von Kyle Corbett gehört. Jeder kannte seinen Namen. »Ein großer Drogenhändler, oder? Beherrscht er nicht das gesamte Gebiet nördlich von Toronto?«
»Offensichtlich sind Sie von den Sonderermittlungen so absorbiert, dass Sie die Szene nicht mehr verfolgen. Kyle Corbett hat sich schon vor drei Jahren aus dem Drogengeschäft zurückgezogen, als er die Geldfälscherei für sich entdeckte. Sie sind überrascht. Sie dachten, seit Ottawa sich für farbige
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