Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
bleiben. Das lag ganz allein bei ihm.
Er entschied aus dem Bauch heraus. Manchmal lieferte er Leute aus, die er eigentlich nett fand, mit denen er sich gut unterhalten hatte, die ein gutes, aber nicht demütigend hohes Trinkgeld gegeben hatten. Alles prima mit diesen Leuten, und trotzdem. Andererseits verschonte er manchmal Arschlöcher. Sein Vorbild war, das durfte er keinem erzählen, sein Vorbild war Gott. Doubek war nicht im Geringsten gläubig, aber er fand Gott als Idee interessant. Eine oberste Instanz, die undurchschaubar und unberechenbar ist und das Gute wie das Böse zulässt und die von den Menschen dafür auch noch jahrtausendelang verehrt wird. Wenn die Leute so etwas brauchten, dann sollten sie es bekommen, warum nicht zum Beispiel von Doubek.
Als er an diesem Morgen um kurz vor sechs in der Hechtsheimer Straße um die Ecke bog, nicht weit vom Rosengarten entfernt, sah er N., die vor einer Dreißiger-Jahre-Villa wartete. Neben ihr stand ein dünner Typ, etwa in ihrem Alter, schätzte Doubek. Haare fast bis zum Arsch, Koteletten breit wie Fischstäbchen, bunte Klamotten, Gitarrenkasten in der Hand. Sie trugen beide Rucksäcke.
N. erkannte ihn sofort. Sie sagte: »Hey, Doubek, du im Taxi, das gibt’s doch gar nicht.« Er hatte sie seit der Schulzeit nicht mehr gesehen, als er so verliebt in sie gewesen war, wie er, seiner Einschätzung nach, nie wieder verliebt sein würde. Das hatte richtig wehgetan damals.
Er hatte dummes Zeug gemacht, zum Beispiel einen anonymen Drohbrief an den Lehrer geschrieben, der sie gevögelt hatte. Er hatte N. eine Zeit lang täglich angerufen, sie bestimmt zehnmal zum Kino eingeladen, was sie jedes Mal mit einer anderen Ausrede ablehnte. Baggern brachte bei ihr überhaupt nichts. Sie gehörte, so schätzte er es rückblickend ein, zu der Sorte von Frauen, die es eher abtörnt, wenn ein Mann zu deutlich Interesse zeigt.
Bei seinen ersten Freundinnen hatte er sich beim Sex immer N. vorgestellt, zumindest ihr Gesicht. Den Rest kannte er nicht so genau. Das war wie ein Zwang, sonst klappte es nicht bei ihm. Nach dem zwanzigsten Mal ungefähr begann der Fluch von ihm zu weichen.
Sie wollten nach Indien. Acht Wochen. Goa. Der Typ erzählte begeistert über die indische Spiritualität und das billige Gras, als ob Doubek das nicht alles selber wüsste. Er gab sich trotzdem freundlich und interessiert. Auf der Autobahn fuhr er langsamer als sonst und schaute oft in den Rückspiegel, um N. zu betrachten. Beiläufig fragte er, wer in den acht Wochen bei ihnen die Blumen gießen würde, acht Wochen, das sei doch bestimmt eine verdammt lange Zeit für so eine Blume. Er vermutete, dass in der Villa sonst niemand wohnte. Wenn es Eltern gäbe, dann hätten die sie wahrscheinlich zum Flughafen gefahren.
Der Typ antwortete, Zimmerpflanzen, nee, sowieso nicht. Für den Garten würde es einen Gärtner geben. Sein Vater arbeitete an der deutschen Botschaft, ein Zweck der Indienreise war auch, seinen Eltern N. vorzustellen. Das Haus, klar, ziemlich spießig, ein Scheißhaus letztlich. Er passte für seine Eltern darauf auf, bis sie in zwei oder drei Jahren aus Indien zurückkamen. So lange studierte er sowieso.
Am Flughafen fragte Doubek N. nach ihrer Telefonnummer. Dabei schaute er sie intensiv an, mit einem Blick, den er in letzter Zeit schon ein paarmal mit gutem Erfolg ausprobiert hatte. Sie lachte und gab ihm die Nummer, danach fragte sie ihn nach seiner Adresse. Er schrieb die Adresse mit Filzstift auf ihr Handgelenk.
In diesem Moment kapierte der Typ, was Sache war. Er wurde nervös und sagte, ey, beeilt euch, das Flugzeug wartet. Kein Selbstvertrauen. Das ist kein Gegner, dachte sich Doubek. Nach der Indienreise ist bei den beiden der Ofen aus. Das steht so was von fest.
Diesmal wollte er nicht aus dem Bauch heraus entscheiden.
Am Abend ging er zu einer Parteisitzung, was er wegen der Frühschichten nur noch selten tat. Außerdem lag die Partei in den letzten Zuckungen. Heute hielt Schulz das Referat. Es war üblich, dass ein bewährter Genosse auf Einladung des Ortsvorstands einen vom Ortsvorstand vorher abgesegneten Vortrag von zehn bis zwanzig Minuten Länge hielt, über den anschließend diskutiert werden sollte. Die Diskussion bestand daraus, dass man Verständnisfragen stellte, Ergänzungen anbrachte oder die Thesen des Referates mit anderen Worten wiederholte. Widerspruch wurde nicht gerne gesehen.
Schulz sprach über Stalin. Was Stalin zu einem der größten Geister
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