Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
zwanzig Jahren Pause. Das war die schönste Nacht meines Lebens, sagt sie. Bis jetzt. Solche Sachen passieren.
Ich sagte zu ihr, dass es so etwas nicht gibt, eine schöne Nacht ist eine schöne Nacht, und basta. Das beste Essen meines Lebens, der tollste Typ meines Lebens, die schönste Bahnunterführung meines Lebens, alles Quatsch und Metaphysik. Schön ist schön. Scheiße ist Scheiße. Mir war auch nicht recht, dass es zwischen uns so persönlich wurde.
Er heißt jetzt anders, sagt sie. Er heißt Grün. Nein, er hieß Grün, und wir wollten uns wiedersehen, es war Liebe, er ist morgens gegangen, zu seiner kranken Tochter, und dann habe ich ein paar Tage später in der Zeitung gelesen, dass er gestorben ist.
Er ist einfach gestorben, verstehst du? Einfach abgehauen.
Das kannst du ihm nicht vorwerfen, sage ich. Das war bestimmt keine Absicht.
Es hat mich aus der Bahn geworfen, Christian. Deswegen geht’s mir nicht so gut zurzeit.
Ich sage das Übliche. Das wird schon wieder. Man kommt drüber weg. Eine Narbe bleibt, ein paar Narben trägt jeder spazieren.
Pinsky steht neben uns. Pinsky sagt: Mir ist das Gleiche passiert. Ich habe eine Jugendfreundin gehabt, da war nie was, nur eben so ein Gefühl von Nähe, jahrelang habe ich immer wieder an sie denken müssen. Im vergangenen Jahr haben wir uns dann gefunden. Am Tag nach unserer ersten Nacht bekam sie die Diagnose. Sieben gemeinsame Monate hatten wir. Ich habe sie gepflegt.
Schweigen.
Eine Stunde später sitzen wir an der Hotelbar, N., Pinsky und ich. Wir sind auf Whisky umgestiegen. N. hört zu, Pinsky erzählt von der Chemo seiner Freundin. Der Haarausfall ist gar nicht schlimm. Das spürt man nicht. Du hast aber Depressionen, Atemnot, alle Sorten von Schmerzen. Hinterher bist du entweder fürs Erste geheilt, oder der Tod kommt dir nicht mehr so schlimm vor. Der Tod kommt dir weniger unangenehm vor als die Chemo. Das heißt, von einer Chemo profitierst du auf jeden Fall.
Grün ist schnell gestorben, sagt N., und Pinsky antwortet: »Das ist das Schönste, was einem passieren kann.«
Begreifen Sie, was da abging? Die morbideste Angrabungsaktion, die man sich vorstellen kann. Sie erzählen sich gegenseitig vom Tod ihrer Liebsten und davon, wie toll die waren. Wobei ich die Geschichte von Pinsky für frei erfunden halte, sonst hätte er mir garantiert früher schon mal davon erzählt. Und die Geschichte von N. war, wenn Sie mich fragen, einfach nur ein Hirngespinst.
Pinsky legt seinen Arm um N., Pinsky legt seinen Kopf auf N.s Schulter. Sie kriegt fast nichts mehr mit. Sie war ja schon angezählt, bevor wir uns an die Bar gesetzt haben.
Wir bringen dich nach oben, sagt Pinsky. Du legst dich besser hin.
Sie hat kein Zimmer in diesem Hotel. Sie wohnt bei einer Freundin.
Dann legst du dich jetzt bei mir ein bisschen hin, sagt Pinsky, und wenn es dir besser geht, fahren der Christian oder ich dich zu deiner Freundin.
Wir stützen N. links und rechts. Ich bin auch schon verdammt müde. Pinsky dagegen, der zwischendrin kurz geschwächelt hatte, wirkt wieder frisch wie eine Frühlingsbrise. Es gibt diese besondere Art von Betrunkenheit. Du trinkst immer weiter, du durchstößt den Nebel, und hinter dem Nebel sieht alles plötzlich wieder ganz klar aus. Das habe ich schon öfter gesehen, ich selber war nie hinter dem Nebel, ich schlafe vorher ein.
Wir gehen am besten zu dir, sagt Pinsky.
N. fällt auf das Bett. Pinsky zieht die Vorhänge zu und holt aus der Minibar zwei Bier.
Wir setzen uns neben N. aufs Bett. Sie rührt sich nicht mehr. Wir trinken Bier. Ich denke, halb so schlimm, morgen habe ich keine Termine. Morgen muss ich nicht fit sein. Das geht schon.
Pinsky zieht N. die Schuhe aus. Danach kommt die Strumpfhose an die Reihe. Dann das Zeug oben herum.
Zuletzt zieht er N. auch die Unterhose aus und schaut sie sich gründlich an. Pinsky zieht sich ebenfalls aus.
Das kannst du nicht machen, sage ich. Pinsky, du spinnst. Lass uns gehen. Ich bin todmüde.
Er ist schon voll dabei. N. wirft den Kopf hin und her, sie murmelt etwas, aber sie kriegt sehr wahrscheinlich nichts mit. Wenn ich nüchtern gewesen wäre, hätte ich etwas unternommen, glauben Sie mir, ich hätte Pinsky weggezogen oder rausgeschmissen oder sonst etwas. Aber ich habe wie ein Halbtoter dagesessen, in einem Sessel neben dem Bett, ein Glas Bier in der Hand, und mir die Bescherung angeschaut.
Widerstand hat sie nicht geleistet. »Nein« hat sie auch nicht gesagt. Alle Beteiligten
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