Gefürchtet
Vorhänge an der Tür des Apartments nebenan bewegten sich. Ich klopfte.
»Wer ist da?«, rief eine Frau hinter der Tür.
»Ich suche den Jungen von nebenan. PJ Blackburn.«
Eine Hand zog die Vorhänge zurück und gab den Blick auf misstrauische Augen und ein fliehendes Kinn frei. »Der ist auf eine Party am Del Playa Drive gegangen.«
»Ich weiß. War er inzwischen wieder zu Hause?«
»Nein.« Sie spähte durch die Scheibe. Offensichtlich konnte sie es gar nicht erwarten, dass ich verschwand. Aber den Gefallen tat ich ihr nicht. »Das hätte ich gehört. Er war nicht da.«
Im Auto ließ ich mich gegen die Kopfstütze sinken und lauschte auf den Regen. Die Sache einfach auszusitzen brachte hier nichts. Ich zückte mein Handy und rief Jesse an.
Der nasse Asphalt vor dem Chaco in der State Street glänz te im Licht der Straßenlaternen, und die Palmen rauschten im Wind. Drinnen im gut gefüllten Lokal herrschte hervorragende Stimmung. Eine lokale Band spielte Indie Rock. Die schmale Sängerin hatte die Augen geschlossen und den Kopf hingebungsvoll zum Mikrofon geneigt. Ich schaute mich um. Jesse war noch nicht da. Ich arbeitete mich zur Bar vor.
Die Musik wurde lauter, aber in meinen Ohren dröhnte statt des Schlagzeugs nur die tosende Brandung des Ozeans, der gegen die Steilküste schlug. Immer wieder stellte ich mir vor, wie sie sich gefühlt haben musste, als sie den Halt verlor und von der Sicherheit des Holzbalkons in die unbarmherzigen Wellen stürzte, wie sie sich an die Oberfläche kämpfte, um nach Luft zu schnappen, und erkennen musste, dass sie mutterseelenallein war.
Das Stück endete mit einem Mollakkord. Die zarte Sängerin
stemmte die Hände in die Seiten und lächelte. Das Publikum applaudierte.
Jesse hatte am Telefon so munter geklungen wie schon lange nicht mehr und von sich aus vorgeschlagen, noch irgendwo Live-Musik zu hören. Die Begeisterung in seiner Stimme hatte mich gerührt. Viel zu lang hatte er jede Freude am Leben verloren gehabt. Wenn ich ihm von der Sache in Isla Vista erzählte, würde das den neu erwachten Lebensmut sofort wieder im Keim ersticken.
Patrick John. Auf, auf und so gut wie davon. PJ hatte sich zwar an der Uni eingeschrieben, aber mit dreiundzwanzig war ein Abschluss noch längst nicht in Sicht. Für Chemie interessierte er sich in erster Linie in Form von Drogen. Er erledigte Gelegenheitsjobs, spielte Gitarre und versuchte ohne übertriebenen Ehrgeiz, mit Plattenfirmen ins Gespräch zu kommen.
Ich behielt die Tür im Auge, um Jesse nicht zu verpassen. Für ihn war es unerträglich, dass sein Bruder grundsätzlich allen Problemen aus dem Weg ging. Aber bei allem Ärger konnte ich PJ nicht böse sein, denn er war für mich da gewesen, als es darauf ankam.
An jenem Tag - einem strahlenden Samstagmorgen, an dem der Hibiskus im Garten blutrot leuchtete und die Luft vom Duft des Jasmins erfüllt war - hatte er an meiner Tür geklingelt. Durch die Glastüren erspähte ich einen großen Jungen mit Baseballmütze, der sich die Nase putzte und nervös herumtrippelte. Ich wusste sofort, dass das Jesses Bruder sein musste. Meine ohnehin schlechte Stimmung sank in den Keller.
Barfuß, mit ungewaschenem Haar und übelster Laune öffnete ich die Tür. »Ich hoffe, du hast eine gute Begründung dabei.«
Seine blauen Augen wichen meinem Blick nicht aus. »Jesse schickt mich.«
Ich verschränkte die Arme. »Um mir zu erklären, wieso er mich gestern Abend versetzt hat?«
Mein neuer Freund war wirklich das Allerletzte. Hätte ich mir ja denken können. Starathlet, unverschämt sexy, ein strahlendes Lächeln und ein messerscharfer Witz - das war einfach zu schön, um wahr zu sein. Und jetzt schickte er seinen Bruder vor.
Dachte ich zumindest. Ich hatte keine Ahnung, dass ich am Rande eines Abgrunds stand und dass PJ gekommen war, um mich hinüber auf die andere Seite zu bringen.
Er putzte sich erneut die Nase und stellte sich mei nem Blick. »Jesse hatte einen Unfall.«
Die Band hatte eine neue, schnellere Nummer begonnen, und die Sängerin röhrte voller Leidenschaft ins Mikro. Ein Mann im Hawaiihemd ließ sich auf dem Barhocker neben mir nieder und griff nach den Erd nüssen auf der Theke. Er stank nach süßlichem Rasierwasser. Die Barkeeperin fragte, was ich trinken wollte. Ich bestellte ein Bier.
Ich sah immer noch PJ auf meiner Veranda stehen, in jenen letzten Sekunden des Sonnenscheins. Die Blauhäher riefen in den Bäumen, und es roch nach frisch gemähtem
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