Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
zu.
    »Da ist Poll«, sagte Blueskin, setzte seine Mütze wieder auf und zog Henry wie einen störrischen Jungen hinter sich her. »Komm schon!«
    Henry kam sich vor wie in einem absurden Albtraum. Und er wartete darauf, endlich aufzuwachen. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Irgendjemand erlaubte sich offensichtlich gerade einen üblen Scherz mit ihm, und es hätte ihn nicht erstaunt, wenn plötzlich eine versteckte Kamera aus einem dunklen Winkel aufgetaucht und er einer albernen Fernsehshow auf den Leim gegangen wäre. Doch kein Fernsehteam erschien, niemand rief: »April, April!« Der Albtraum ging einfach weiter, und Henry blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen und zu warten. Worauf auch immer.
    »Wo ist Bess?«, begrüßte Blueskin die junge Frau und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. »Sag nicht, sie will kneifen.«
    »Bess ist schon am Newgate, sie wollte vorher noch was besorgen«, antwortete Poll und beäugte Henry misstrauisch. »Wer is’n der Kerl?«
    »Darf ich vorstellen: Henry Ingram. Er ist neu bei uns und hat gestern seine Feuertaufe bestanden. Auch wenn er im Augenblick nicht ganz frisch aussieht und sich an nichts erinnern kann. Das Saufen muss er jedenfalls noch lernen.« Er grinste, deutete auf Poll und sagte: »Und das ist Poll Maggott. Die zweitbeste Hure von London.«
    »Blödmann!«, zischte Poll und schlug ihm mit einem Fächer auf den Unterarm.
    »Ehre, wem Ehre gebührt«, antwortete Blueskin, lachte dreckig und gab ihr einen Klaps auf den Hintern.
    Henry starrte die Frau ungläubig und zugleich fasziniert an. Sie schien sehr jung zu sein, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt, was jedoch nicht so einfach zu beurteilen war, weil sie sich das Gesicht weiß geschminkt und gepudert hatte, sodass es beinahe wie eine Maske wirkte. Wangen und Nase waren mit schwarzen Schönheitspflästerchen geradezu übersät, und auf ihrem hochgesteckten dunkelblonden Haar thronte ein Ungetüm von Federhut, der an einen ausgestopften Fasan erinnerte. Poll hatte ihr freizügig dekolletiertes Mieder derart fest verschnürt, dass die Brüste, die ebenfalls weiß gepudert und mit Schönheitspflastern beklebt waren, hervorquollen und herauszuhüpfen drohten. Poll geizte nicht mit ihren Reizen, aber gleichzeitig erschienen diese Reize so übertrieben und unnatürlich zur Schau gestellt, dass sie ihre Wirkung beinahe gänzlich verloren. Henry fühlte sich an die Wachsfiguren bei Madame Tussauds erinnert.
    »Was gibt’s ’n da zu glotzen?«, fauchte Poll ihn an, fächerte sich Luft zu und rümpfte verächtlich die Nase. »Hast du noch nie Titten gesehen?« Dann klappte sie den Fächer zu, fuhr auf dem Absatz herum und stapfte in Richtung Tower davon.
    Blueskin stieß Henry verschwörerisch mit dem Ellbogen an, hob die Augenbrauen und grinste vielsagend. »Poll ist ’ne wilde Katze. Nimm dich in Acht, mein Lieber, sie hat scharfe Krallen.«
    »Wer ist denn die beste Hure?«, fragte Henry etwas verwirrt, während sie Poll folgten und unweit des Towers auf die alte Stadtmauer stießen, die den Blick nach Westen versperrte.
    »Hm?«, machte Blueskin.
    »Du hast gesagt, dass Poll die zweitbeste Hure in London ist. Wer ist die beste?«
    »Edgworth Bess natürlich. Jedenfalls behauptet sie das.« Er hob die Augenbrauen und fügte pikiert hinzu: »Ich selbst hatte noch nicht das Vergnügen.«
    »Edgworth Bess?« Henry hätte beinahe laut losgelacht. » Die Edgworth Bess?«
    »Kenn nur die eine!«
    Das war es also! Plötzlich wusste Henry, wieso ihm der Name Blueskin Blake so bekannt vorgekommen war. Er konnte es nicht fassen. Nur mit Mühe zwang er sich, ernst zu bleiben und nicht zu erkennen zu geben, dass er den Scherz durchschaut hatte. Auch wenn er den Sinn des Ganzen nach wie vor nicht verstand.
    Er fragte: »Dieselbe Bess, die am Newgate auf uns wartet?«
    »Ay.«
    »Und was werden wir dort tun?«
    »Na, was wohl! Wir holen Jack aus dem Gefängnis. Also eigentlich holen ihn Bess und Poll aus dem Gefängnis, wir anderen sorgen nur für ein wenig Ablenkung und Verwirrung. Bess hat alles mit Jack besprochen.«
    »Ich vermute, du redest von Jack Sheppard«, sagte Henry, ohne sich ein Grinsen verkneifen zu können. »Dem großen Jack Sheppard.«
    »Freut mich, dass die Erinnerung zurückkommt«, meinte Blueskin und zog Henry nach rechts, wo sie nun an der mehr als zehn Fuß hohen Stadtmauer entlang nach Norden gingen. »Aber groß würde ich Jack nicht unbedingt nennen.« Er lachte schelmisch und

Weitere Kostenlose Bücher