Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
direkt neben Henrys Kopf, und setzte knurrig hinzu: »Herrschaftszeiten!« Dann stapfte er weiter zu einer steinernen Treppe in der Ecke, die nach wenigen Stufen zu einer niedrigen Holztür führte. Tock, tock machte es auf dem Steinboden und den Stufen. Vermutlich benutzte der Mann einen Gehstock oder eine hölzerne Krücke. Als er die Tür öffnete, drang für einen Moment Sonnenlicht in den Keller und blendete Henry, sodass er die Augen schließen musste. Kurz darauf fiel die Tür ins Schloss, und es war wieder finster wie im Grab.
    Henry riss erschrocken die Augen auf. Hatte er das gerade richtig gesehen? Als der Mann in der offenen Tür gestanden hatte, hatte Henry dessen Schattenriss im gleißenden Licht gesehen. Und auch wenn er seinen Sinnen im Moment nicht trauen wollte, war er sich doch sicher, dass der Mann einen Dreispitz auf dem Kopf getragen hatte. Und unterhalb seines linken Knies einen Holzstumpf! Eine plumpe Beinprothese wie aus einem alten Piratenfilm. Der Schiffskoch Long John Silver aus Die Schatzinsel , dachte Henry. Fehlte nur der Papagei auf der Schulter.
    Er lachte ungläubig und schaffte es schließlich, sich aufzurappeln. Er hatte weder Schuhe noch Socken an den Füßen, wollte aber auf dem klebrigen und schmierigen Boden nicht danach tasten. Dann erst fiel ihm ein, dass er gestern auf der Bühne keine Schuhe getragen hatte. Also setzte er seine Mütze auf und wankte barfuß und mit wackligen Knien zur Treppe. Dort schaute er sich noch einmal in dem stinkenden Verlies um, ohne wirklich etwas erkennen zu können, hielt sich schützend die Hand vor die Augen und trat hinaus ins Freie.
    Es musste bereits Mittag sein. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, eine sengende Hitze schlug Henry entgegen, der Gehweg zu seinen Füßen war staubtrocken und sandig, was umso erstaunlicher war, weil es gestern, kurz vor der Premiere, wie aus Kübeln gegossen hatte und für heute das gleiche Regenwetter vorhergesagt worden war. Was Henry aber viel mehr verwirrte und vollends an seinem Verstand zweifeln ließ, spielte sich nicht am Himmel, sondern auf der Erde ab, direkt vor seiner Nase. Denn er war mitten in einem Film gelandet. Oder besser gesagt, in einer Filmkulisse.
    Die Straße vor ihm war eng bebaut und mit holprigem Kopfstein gepflastert, über den in diesem Augenblick eine zweispännige Pferdekutsche ratterte. In einer breiten Rinne in der Mitte der Straße warteten Unrat, Abfälle und allerlei tierischer Kot darauf, vom nächsten Regenguss weggespült zu werden. Eine Art Sänfte wurde von zwei livrierten Lakaien vorbeigetragen. Männer mit voll beladenen Handkarren eilten über das Pflaster, Frauen mit riesigen Körben auf dem Rücken folgten ihnen und wurden von verlotterten Kindern beobachtet, die im Rinnstein saßen und sich den Platz mit frei herumlaufenden Schweinen und diversem Federvieh teilten. Die Häuser auf beiden Straßenseiten waren niedrig, schmal und windschief. Sie ragten ab dem ersten Stockwerk in die Gasse hinein, als wollten sie am Himmel zusammenwachsen. Die meisten von ihnen waren aus Fachwerk oder gänzlich aus Holz gebaut, und die wenigen Steinhäuser, die Henry sah, wirkten ebenfalls wie Relikte aus einer anderen Zeit. Gleiches galt für die Kleidung der Leute. Sie trugen, genau wie Henry, allesamt Kostüme. Die Männer hatten Schlapphüte oder Lockenperücken auf dem Kopf und trugen Hemden mit riesigen Kragen und ebensolchen Ärmelaufschlägen sowie Kniebundhosen. Die Frauen trugen Hauben und stramme Mieder, Brusttücher und gebauschte Petticoats, die unter den schäbigen, meist bräunlichen oder grauen Kleidern hervorlugten. Für Henry konnte es keinen Zweifel geben: Er befand sich auf dem Gelände eines Filmstudios. Alle um ihn herum, er selbst einbegriffen, sahen aus, als wären sie einer Daniel-Defoe-Verfilmung entfleucht.
    Aber wo waren die Kameras? Wo befanden sich die Scheinwerfer, die Mikrofone, das Regie-Pult, der Catering-Wagen, die Chemie-Toiletten? Und wo, zum Teufel, war die Crew? Wer drehte diesen Film? Wer hatte Action! gerufen und die zahlreichen Komparsen losgeschickt?
    In Henrys malträtiertem Kopf ging es drunter und drüber, doch bevor er weiter über diese Fragen nachdenken oder nach dem Ausgang des Studiogeländes suchen konnte, stand plötzlich ein junger Kerl neben ihm, klopfte ihm auf die Schulter und fragte: »Na, mein Guter, von den Toten auferstanden?«
    Der Bursche war etwa in Henrys Alter, Anfang zwanzig, und trug eine Kleidung, die Henrys

Weitere Kostenlose Bücher