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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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setzte hinzu: »Sieht man mal von seiner großen Klappe ab.«
    »Ähm, sag mal … nur aus Interesse«, sagte Henry und wich einer schwarzgefleckten Sau aus, die mitten auf dem Weg im Dreck wühlte. »Welchen Tag haben wir heute?«
    »Na, du stellst Fragen. Heute ist Montag, der letzte Tag im August, wenn ich mich nicht irre.«
    »Und welches Jahr?«
    »Fragst du das im Ernst?«
    »Jetzt sag schon!«
    »1724«, antwortete Blueskin und musterte ihn kopfschüttelnd.
    »Natürlich!« Henry konnte sich nicht länger zusammenreißen, der Lachkrampf überkam ihn, und er konnte sich nicht dagegen wehren. »1724, was sonst? Wie dumm von mir!« Er drehte sich um die eigene Achse, breitete die Arme aus und rief: »Ihr könnt rauskommen, Leute! Ich hab’s geschnallt.«
    »Was is’n mit dem los?«, fragte Poll, die vor einem steinernen Tor in der Stadtmauer stehen geblieben war und auf sie gewartet hatte. »Verrückt geworden, oder was?«
    Blueskin zuckte mit den Schultern und knurrte: »Mutters Wacholderfluch!«

2

    Henry hatte sich gründlich auf seine Rolle in der Bettleroper vorbereitet. Nicht nur den Text gelernt, wie es sich von selbst verstand, sondern sich auch in die historischen und literarischen Hintergründe eingearbeitet. Er hatte sich mit der Biografie des Autors John Gay befasst, hatte die Entstehungs- und Aufführungsgeschichte der Bettleroper recherchiert und wusste daher nicht nur, wie das Stück im Laufe der Jahrhunderte auf der Bühne interpretiert worden war, sondern auch, welche realen Figuren in dem Schauspiel verarbeitet worden waren. So war der Gaunerboss und Hehler Peachum einerseits dem berüchtigten Londoner Ganoven Jonathan Wild nachempfunden und andererseits als Karikatur auf den Politiker und Englands ersten Premierminister Robert Walpole angelegt. Auch für Captain Macheath, den Henry auf der Bühne verkörpert hatte, hatte es ein reales Vorbild aus dem frühen 18. Jahrhundert gegeben: Jack Sheppard, den später als Volkshelden gefeierten Räuber, der mit seinem Kumpan Blueskin die Straßen Londons unsicher gemacht und es geschafft hatte, gleich mehrmals und auf abenteuerliche Weise aus dem Newgate-Gefängnis zu entkommen. Was besonders deswegen für Aufsehen sorgte, da das Newgate als völlig ausbruchsicher galt. Sheppards Geliebte und Gehilfin war die Hure Edgworth Bess gewesen, und diese Bess, oder Elizabeth Lyon, wie sie eigentlich hieß, war gleichzeitig eine der Vorlagen für Polly Peachum aus der Bettleroper gewesen.
    Henry hatte keine Ahnung, was das genau zu bedeuten hatte und wie alles zusammenhing, aber er begriff nun, dass er das Opfer eines groß angelegten und aufwendig inszenierten Scherzes geworden war. Gestern Abend hatte er den Captain Macheath auf der Bühne gegeben, und heute sollte er Zeuge werden, wie Macheaths reales Vorbild Jack Sheppard aus dem Newgate-Gefängnis befreit wurde. Im Jahr 1724! Auf solch einen Unsinn konnte einfach nur das Fernsehen kommen. Candid Camera , Verstehen Sie Spaß? , Punk’d  – es gab viele Versionen dieser Reality-Shows, die es darauf abgesehen hatten, irgendwelche Leute auf die Schippe zu nehmen. Und in einer dieser Shows war Henry gelandet – dessen war er sich inzwischen felsenfest sicher. Mehr denn je war er davon überzeugt, dass er sich auf einem Filmgelände befand, und hinter dieser zugegebenermaßen echt wirkenden Nachbildung der Stadtmauer von London (die es bekanntlich seit Jahrhunderten nicht mehr gab) lag das wirkliche Leben, das echte London, das Ende dieser albernen Fernseh-Inszenierung.
    Henry wollte kein Spielverderber sein und kämpfte gegen seinen Lachkrampf an. Das Lachen tat seinem Kopf und seinem Magen ohnehin nicht gut. Und er fragte sich, welche Drogen sie ihm gestern verabreicht hatten, um einen solchen Filmriss und derartige Kopfschmerzen zu fabrizieren.
    »Was’n nu?«, schimpfte Poll mit Blueskin und deutete auf Henry. »Kommt der Kerl mit, oder bleibt er hier? Du bist für ihn verantwortlich, Blueskin. Sieh zu, dass er keinen Unfug anstellt! Sonst kratzt dir Bess die Augen aus.«
    »Es geht schon wieder«, schnaufte Henry und hielt sich den Schädel, in dem eine ganze Elefantenherde im Kreis zu marschieren schien. Dann deutete er auf das Steintor in der Stadtmauer und fragte: »Was ist das?«
    »Das Aldgate, was sonst?!«, sagte Blueskin. »Müssen wir uns eigentlich ernsthaft Sorgen um dich machen?«
    Henry kannte das ehemalige östliche Stadttor nur von alten Kupferstichen, die er vor ewigen Zeiten im

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