Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Element, das in der deutschen Politik sehr selten zu Wort komme. Diese Kräfte seien dann im politischen Alltag leider schnell aufgerieben worden, und damit seien auch die Chancen auf einen gemäßigten dritten Weg, wenn man so will, zerstoben.
FISCHER Ich glaube, zwei Fehler wurden gemacht. Der erste wurde von der SPD gemacht. Kohl hatte eine klare Machtstrategie, die darauf hinauslief, die Ost-CDU, hundertprozentige Blockflöten, zu integrieren nach dem Motto: Geld abliefern, niederknien, dann bekommt ihr das Aschekreuz, drei schmerzensreiche Rosenkränze und Absolution – und seid fortan gute Christdemokraten. So war Helmut Kohl. Die Sozialdemokraten haben einen strategischen Großfehler gemacht, der dann zur PDS führte. Klar war, dass es für die Hauptbelasteten aus den ersten Reihen keine Option geben konnte. Aber die Geschichte wäre anders verlaufen, wenn ein ernst gemeinter Versuch stattgefunden hätte, die vielen heimatlosen SED-Leute ab der fünften oder sechsten Reihe zu integrieren. So aber fing die heimatlos gewordene Elite der ehemaligen DDR an, eine eigene Partei zu machen. Was die Regimetreue anbetraf, gab es zwischen Blockparteien und SED wirklich nur graduelle Unterschiede. Der zweite große Fehler, der gemacht wurde, betrifft die Rolle der Bürgerrechtler. Sie haben das eben mit Ihrem Hinweis auf Richard von Weizsäcker angesprochen. Ich war damals Mitglied der Verfassunggebenden Kommission und kann nur sagen, vor allem von Seiten der CDU/CSU kam jedes Mal ein rigoroses Nein, wenn es darum ging, der ostdeutschen Opposition entgegenzukommen. Nicht machtpolitisch, aber was das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen betraf, wäre es von großer Bedeutung gewesen, hätte man die Rolle der DDR-Bürgerrechtsbewegung stärker betont und Elemente ihrer Opposition ins Grundgesetz aufgenommen. Das hätte den Charakter des Grundgesetzes überhaupt nicht verändert, aber den Ostdeutschen das Gefühl gegeben, wir sind nicht nur beigetreten, sondern wir haben auch etwas zu der neuen gemeinsamen deutschen Demokratie beigetragen. Es wäre dann eine ganz andere emotionale Grundstimmung entstanden. So aber hat der Vereinigungsprozess viel Frustration bei den Ostdeutschen hervorgerufen: Wir sind da beigetreten und …
STERN Wir wurden beigetreten.
FISCHER Wir wurden beigetreten. Aber auch das liegt alles hinter uns, es ist entschieden und …
STERN Aber da sind Fehler begangen worden, große Fehler. Wie die Ostdeutschen behandelt wurden, gerade auch in Angelegenheiten, die ich mitverfolgen konnte, zum Beispiel an den Universitäten …
FISCHER Da sind große Fehler begangen worden, ja. Aber der Kardinalfehler wurde am Anfang begangen. In Sonntagsreden wurde ja immer lobend hervorgehoben, wie friedlich diese Revolution war und wie toll, aber niemand im Westen hat ernsthaft darauf hin gewirkt, diese Erfahrung der friedlichen Revolution konstitutiv in den Verfassungsbestand des vereinigten Deutschland aufzunehmen, und das fand ich eigentlich eine vertane Chance. Wir waren uns alle einig, wir wollen das Grundgesetz nicht in der Substanz ändern, aber das war eine Scheindebatte, darum ging es gar nicht. Sondern es ging um die Frage, was bleibt von der friedlichen Revolution über die staatliche Einheit hinaus, was bleibt von jenen Elementen, die Richard von Weizsäcker gern bürgerschaftlich nennt, die für mich aber erkämpfte Demokratie waren, erkämpft gegen die SED-Diktatur.
STERN Es ging im Kern um die psychologische Anerkennung dessen, was in den Kreisen der DDR-Dissidenten an Widerstandsgeist entwickelt wurde und schließlich zum Zusammenbruch des Regimes geführt hat, das hätte man 1990 ganz anders honorieren müssen.
FISCHER Jetzt haben wir eine ostdeutsche Bundeskanzlerin und einen ostdeutschen Bundespräsidenten.
STERN Das ist die List der Geschichte, fast möchte ich sagen, die Rache.
FISCHER Nein, nicht Rache. Es ist okay, ja mehr noch, es ist fortan selbstverständlich und deshalb hoch zu veranschlagen – zudem noch eine Frau. Aber ich sage jetzt nichts über die Qualität ihrer Politik, damit ich nicht missverstanden werde – das ist ein völlig anderes Thema.
STERN Ich wage trotzdem mal eine Behauptung. Die Herkunft von Frau Merkel aus der ehemaligen DDR macht die Diskussion über die Rettung des Euro und die Zukunft des Euroraums nicht leichter. Sie ist in diesen Dingen in einer ähnlichen Situation wie gegenüber 68.
FISCHER
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