Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Business.
STERN Auf der anderen Seite ist der Markt etwas begrenzt.
FISCHER Da haben Sie recht. Die Grünen haben sich wie üblich selbst ins Bein geschossen. Wäre der Entwurf zum Wahlrechtsgesetz für den ersten gemeinsam Deutschen Bundestag, den SPD und CDU/CSU vereinbart hatten, bestehen geblieben, wären die Grünen drin gewesen, weil es dann eine gemeinsame Zählung gegeben hätte. Aber das Genie von Christian Ströbele, damals unser Bundesvorsitzender, hat das verhindert. Ich sehe Hans-Jochen Vogel noch mit hochrotem Kopf in einem Bonner Restaurant vor mir sitzen, wie er sich ereifert: «Ein Tor, ein unglaublicher Tor, wie konnte er nur?» Ströbele ist in Karlsruhe klagen gegangen und hat, oh Jammer, Recht bekommen, mit der Konsequenz, dass die Ost-Grünen, gemeinsam mit Bündnis 90, mit sieben Abgeordneten drin waren – allerdings kaum wegen der Umwelt, sondern vor allem wegen ihres Mutes als Oppositionelle und Bürgerrechtler in der späten DDR und während der Wendezeit –, und die West-Grünen waren draußen. Hätte Ströbele die Klage gelassen, wären wir gemeinsam im Bundestag gewesen.
STERN Mein Eindruck bleibt trotzdem, dass die Grünen 1990 das eigentliche Thema, das Einheitsthema, verpasst haben. Denken Sie an das böse Wort: Die haben die Banane gewählt …
FISCHER Entschuldigung, das war Otto Schily. Der war damals bereits Sozialdemokrat.
STERN Ich weiß.
FISCHER Die Stimmung hat er damit getroffen, ja. Aber stellen Sie sich mal vor, alle Parteien wären angetreten zu einem Wettbewerb «Wer ist die nationalste?», und jede hätte von sich behauptet, wir sind noch schwarz-rot-goldener als ihr. Ich glaube, das wäre sehr schlecht für Deutschland gewesen.
STERN Das ist richtig. Die Bescheidenheit, mit der die Wiedervereinigung durchgeführt und dann festgeschrieben wurde, war verblüffend, ohne jedes Auftrumpfen. Man braucht ja nur 1990 mit 1871 vergleichen. Das war sehr eindrucksvoll!
FISCHER Helmut Kohl hat das gut gemacht, überhaupt keine Frage. Man würde sich wünschen, dass die jetzige Kanzlerin in der europäischen Krise ähnlich entschlossen und weitsichtig agierte wie damals Helmut Kohl mit seinem Zehn-Punkte-Plan.
STERN Mit der Ausnahme, dass er die polnische Grenze nicht unter die zehn Punkte aufgenommen hat, das ist ihm mit Recht übel genommen worden. Das war ein Fehler, den ich damals sofort beklagte.
FISCHER Das ist wahr, ein entscheidender Punkt, den er aber nachher korrigiert hat, weil es ohne die Anerkennung der polnischen Westgrenze keine deutsche Einheit gegeben hätte. Was die Währungsumstellung 1:1 angeht, heißt es, es hätte dazu keine Alternative gegeben, aber ich bezweifele es immer noch. Im Übrigen ist das damals von den Sozialdemokraten angeschoben worden, eigentlich von Ingrid Matthäus-Maier, ihrer finanzpolitischen Sprecherin. Für die Umstellung einschließlich der Rentenangleichung war aber eindeutig der Wahlkämpfer Kohl verantwortlich, der die Wählerschaft fest im Auge hatte. Dafür haben wir einen hohen Preis bezahlt, aber das ist alles Schnee von gestern.
STERN Nachher korrigiert, richtig. Aber ein Schaden blieb. Sonst war im Grunde die Haltung: Egal, was das kostet, wir müssen hier so schnell wie möglich durch, weil wir diese einmalige historische Chance haben.
FISCHER Diese Haltung würde ich mir jetzt in der europäischen Krise wieder wünschen.
STERN Egal, was es kostet.
FISCHER Ja, egal, was es kostet. Wir gehören zusammen, wir bleiben zusammen. Wenn dies glaubhaft gemacht werden würde, dann würde sich sehr schnell vieles ändern.
STERN Es wäre natürlich leichter und einfacher zu vermitteln, wenn es um eine Nation ginge und nicht um ganz Europa. Das Europabewusstsein ist in dem Sinne viel zu wenig ausgeprägt und in keiner Weise zu vergleichen mit dem Einheitsbewusstsein der Deutschen 1989/90.
FISCHER Sie haben sicher recht, Fritz, selbst in meinem skeptischen westlichen Kopf war völlig klar, die Einheit wird jetzt kommen. In Europa sind wir leider noch nicht so weit, aber dennoch: Es geht gerade, angetrieben durch die Krise, voran.
STERN Richard von Weizsäcker bedauert es bis heute, dass die Kräfte, die an den Runden Tisch geführt haben und dann am Runden Tisch auch vieles mitbestimmt haben, im Laufe des Vereinigungsprozesses immer mehr an Gewicht verloren. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem bürgerschaftlichen
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