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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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statt.
    STERN    Das war ja der Sinn der Sache: in aller Öffentlichkeit. Aber da haben die Kirchen geschwiegen.
    FISCHER    Nichts liegt mir ferner, als die damalige Amtskirche zu verteidigen. Mir geht es hier nur um die Frage des Kenntnisstandes. In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage an Sie, Fritz. Die Zeitzeugen sterben allmählich aus. Es interessiert mich, weil Ihre Generation jetzt in ein Alter kommt, wo man nicht weiß, wie lange …
    STERN    Wie lange wir noch da sind.
    FISCHER    So ist es. Und deshalb interessiert mich, wie Sie als junger Emigrant die Nachkriegszeit, sagen wir, die fünfziger Jahre erlebt haben, mit welchen Empfindungen Sie nach Deutschland gekommen sind? Es wimmelte doch damals noch überall von Mitläufern oder gar Tätern. Wie war das für Sie?
    STERN    Wissen Sie, Joschka, irgendwann hat man aufgehört, sich als Emigrant zu fühlen, und begann, sich als Immigrant zu empfinden. Es ist ein großer Irrtum gerade auch der Jüngeren, zu glauben, dass wir alle als Emigranten zusammengehockt hätten. Aber die Frage ist, was ich empfunden habe, als ich zum ersten Mal zurück nach Deutschland gekommen bin?
    FISCHER    Ja. Ihre Erinnerungen tragen ja den schönen Titel «Fünf Deutschland und ein Leben». Wenn ich richtig gezählt habe, war die alte Bundesrepublik für Sie das vierte Deutschland – nach Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus das vierte. Ich will Ihrer Antwort vorweg schicken, dass sich die fünfziger und frühen sechziger Jahre für mich ganz klar in einem Wort zusammenfassen lassen: Für mich ist diese Zeit «a Twilight Zone», eine Periode des Zwielichts.
    STERN    Also, ich kam das erste Mal zurück 1950 und war voller Misstrauen – um es milde auszudrücken. Mir war völlig klar, dass die meisten irgendwie involviert oder verstrickt gewesen waren. Ich war 24 Jahre und habe die meiste Zeit in Archiven verbracht. Jemanden zu fragen, was er in den zwölf Jahren Nationalsozialismus eigentlich gemacht hat, kam mir nicht in den Sinn. Von heute aus ist das vielleicht nur schwer nachvollziehbar. Am besten erzähle ich Ihnen einen Witz, den mir ein tschechischer Philosoph 1954 in Cambridge erzählte, als er hörte, dass ich auf dem Weg nach Berlin sei. Also, in einem der ersten Züge nach dem Krieg sitzen drei Deutsche und ein britischer Offizier im gleichen Abteil. Nach ein paar Minuten steht der britische Offizier auf und spricht den ersten Deutschen an: «Entschuldigen Sie, waren Sie Mitglied der NSDAP?» Antwort: «Wo denken Sie hin? Sie müssen wissen, in der Partei waren nur ganz wenige Leute da oben, wir anderen waren alle dagegen.» – «Danke vielmals.» Nach ein paar Minuten steht der Engländer zum zweiten Mal auf und fragt den zweiten Deutschen dasselbe. «Also, Sie kommen hierher, um uns umzuerziehen, und dann fragen Sie uns über unsere politische Vergangenheit aus. Ich empfinde das als eine Zumutung. Die Antwort ist Nein.» – «Danke sehr.» Der dritte schließlich antwortet: «Herr Offizier, im Jahre ’37 hatte ich Frau und zwei Kinder. Mein Beruf verlangte, dass ich Mitglied der Partei werden musste, und so bin ich in die Partei eingetreten.» – «Ich danke Ihnen vielmals. Ich möchte nämlich in den Speisewagen und suche jemanden, der auf mein Gepäck aufpasst.» Als ich den Witz wenig später bei einem Essen bei Bekannten von der Freien Universität erzählte, merkte ich, dass er bei der Mehrheit nicht gut ankam. – Um Ihre Frage nach meinen damaligen Empfindungen klar zu beantworten: Ich hatte ungeheures Misstrauen, und ich war wohl eigentlich voller Hass.
    FISCHER    Wann und wie hat sich das geändert?
    STERN    Es hat sich grundlegend emotional geändert am 20. Juli 1954, bei der ersten Gedenkfeier im Bendlerblock. Der Anblick der vaterlosen Kinder und der jungen Witwen: Das hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Hingegangen bin ich eigentlich wegen Hermann Lüdemann, dem ehemaligen Oberpräsidenten von Niederschlesien. Das war ein Patient meines Vaters, ein strammer SPD-Mann, der jahrelang im KZ gewesen war und später von sich aus die Verbindung zum 20. Juli gesucht hat. Widerstand hatte mich schon immer tief bewegt. Es ist die Haltung, die ich später als «aktiven Anstand» bezeichnet habe. Mich hat die Frage nie losgelassen, ob ich mich auch so bewährt hätte. Ich war so hingerissen von dieser Vorstellung, dass ich mir schon als Junge in der High School eine kleine Geschichte über eine von

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