Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
vollendeter Sadist benommen hat.
FISCHER Solche Biografien meinte ich, als ich mich eben nach Ihren Empfindungen bei der Rückkehr erkundigte. Man musste sich doch bei jeder Begegnung fragen, wer einem da eigentlich gegenübersteht.
STERN Die Feier zum zehnten Jahrestag des Hitler-Attentats war für mich, wie gesagt, ein wichtiger Einschnitt, aber ein großes Stück Misstrauen blieb natürlich. Der 20. Juli war ja noch lange verpönt, besonders auch bei den damaligen Richtern und Staatsanwälten, die ja noch ziemlich braun waren. Auf der anderen Seite hatte ich von Anfang an – das war ein wesentliches Erbteil meiner Kindheit, weil Politik in meinem Elternhaus immer eine große Rolle gespielt hatte – das größte Interesse an allem, was den Aufbau der neuen Demokratie betraf, und da habe ich mich auch schon früh engagiert. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Szene mit einem heute sehr bekannten deutschen Historiker, der ungefähr in meinem Alter ist, etwas jünger – ich kann den Namen ja nennen: Hans-Ulrich Wehler. Den habe ich besucht, das muss 1962/63 gewesen sein. Er war damals Assistent bei Theodor Schieder in Köln und klagte reichlich, wie er behandelt wurde. Dann klingelte das Telefon. Wehler nahm ab: Jawohl, Herr Professor, selbstverständlich, vollkommen richtig, Herr Professor, und so weiter. Das gab mir sehr zu denken. Wie schlimm es für junge, links stehende Historiker damals war, ihr Verhältnis zu den Älteren richtig zu justieren, von denen sie abhängig waren, von denen sie aber wussten, oder zumindest ahnten, dass sie in den Jahren des Nationalsozialismus nicht ganz so abseits gestanden haben konnten, wie es hinterher von ihnen behauptet wurde. Übrigens Wehler: ein hervorragender Historiker.
FISCHER Sie sehen die Auseinandersetzung über den Nationalsozialismus also als einen Generationenkonflikt.
STERN Zum Teil ja. Und in diesem Generationenkonflikt habe ich mich immer wieder engagiert, am leidenschaftlichsten wohl 1964 in der Kontroverse um den Historiker Fritz Fischer, als die Alten um Karl-Dietrich Erdmann und Gerhard Ritter versuchten, den jüngeren Kollegen mundtot zu machen, der erdrückende Beweise zusammengestellt hatte, aus denen hervorging, dass die Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch im August 1914 bei den Deutschen lag. Ich habe klargemacht, dass das Buch ein paar Mängel hatte, dass aber die These von der deutschen Allein un schuld nicht länger haltbar sein würde. Die Überbetonung der angeblichen «Einkreisung» lenke nur ab von der Erkenntnis, wie fatal die deutsche Außenpolitik in wilhelminischer Zeit geführt wurde. Die andere These, die damals sehr beliebt war, lautete, das Ganze sei nur ein Betriebsunfall gewesen. In einer Rede auf dem Berliner Historikertag fragte ich, ob es überhaupt so etwas wie eine Reihe von Betriebsunfällen gibt, ohne dass man auf die Idee kommt, dass in dem Betrieb was nicht stimmt. Es war polemisch gemeint und wurde vom «Spiegel» entsprechend groß und sensationell aufgemacht. Ritter und andere Größen, die mir vorher sehr freundlich gesinnt waren und mich auch eingeladen hatten, gaben mir nachher nicht einmal mehr die Hand. – Ich möchte hinzufügen, dass ich für das Jahr 2014, wenn sich der Ausbruch dieses entsetzlichsten Krieges der europäischen Geschichte zum hundertsten Male jährt, noch einmal schwierige Debatten auf die Deutschen zukommen sehe. Lauter aufgewärmte Sachen über deutsche Unschuld und darüber, dass es ohne den – zweifellos problematischen – Vertrag von Versailles Hitler nicht gegeben hätte. Da wird viel Nüchternheit erforderlich sein.
FISCHER Wenn man sich den von Ihnen am Beispiel der Historiker geschilderten Generationenkonflikt anschaut, finde ich es immer wieder erstaunlich, dass sich am Ende doch, wenn auch unter großen Schmerzen, nach vielen Irrungen und Wirrungen, eine alles in allem recht stabile, funktionsfähige Demokratie entwickelte und eine offene Gesellschaft mit einem stark ausgeprägten Rechtsempfinden herauskam. War das Ihrer Meinung nach das Verdienst der Deutschen, oder waren es hauptsächlich externe Faktoren?
STERN Externe Faktoren haben sicher eine große Rolle gespielt. Aber in erster Linie war es das historische Bewusstsein, das Bewusstsein der Vergangenheit, das diese Übergangsphase schließlich zu einem guten Ende brachte. Damit meine ich nicht nur das Bewusstsein der Schuld. Ich meine tatsächlich historisches Bewusstsein. Die
Weitere Kostenlose Bücher