Gegen Vaters Willen
gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange, bevor er sich schwungvoll setzte.
Eileen lächelte ihn errötend an, bevor sie sich wieder an die Arbeit machte.
Ryan liebte seine Mutter mit derselben Intensität, wie er seinen Vater hasste. Sie war ein warmherziger Mensch, gutmütig und freundlich. Das komplette Gegenteil seines Vaters, der es verstand, seine kleine Familie zu kontrollieren und vor allem zu schikanieren.
Als er schließlich nach dem Frühstück aufstand und hinausging, wunderte es ihn keine einzige Sekunde, dass sein Vater seinen Aufbruch nicht versäumt hatte. Er holte gerade sein Fahrrad aus der Scheune, als auch schon Jon McCoys Wagen vor ihm hielt.
„Guten Morgen, Dad!”, sagte Ryan ironisch.
„Was soll daran gut sein? Machst dich doch aus dem Staub”, knurrte Jon mürrisch.
Ryan schloss kurz die Augen und nahm sich vor, so früh am Morgen, keine Grundsatzdiskussion mit seinem Vater zu beginnen.
„Wann bist du zurück?”, fragte sein Vater in barschem Ton.
„Ich weiß es nicht. Ich habe doch noch gar keinen Stundenplan. Das habe ich dir aber gestern schon erklärt. Ich komme nach der Schule gleich zurück, keine Sorge”, erwiderte Ryan genervt.
„Das will ich dir auch geraten haben.” Jon McCoy war währenddessen aus dem Wagen gestiegen und betrat das Haus, wo er sofort nach einer Tasse Kaffee verlangte, die, wie Ryan wusste, schon bereit stand. Er forderte sie dennoch jeden Morgen lautstark, einzig und allein, um seine Macht zu demonstrieren.
Ryan schwang sich auf sein Fahrrad und winkte Toby zu, der auf dem schwarzen Hengst Shadow über die Koppel ritt, den Gruß lächelnd erwiderte, als er losfuhr. Es war ein unglaublich schönes Gefühl, wie der Wind durch seine Haare blies, seine Gedanken verschwinden ließ, wie eine überflüssige Wolke und seinen Kopf befreite.
Mit extrem hoher Geschwindigkeit raste Ryan durch die angrenzenden Wälder, überquerte einen kleinen Bach und sauste einen steilen Hang hinunter. Wohlbehalten erreichte er die Hauptstraße von Mountain Creek. An einer Ampel hielt er an, ließ den Schulbus der Mountain Creek Elementary High vorbeifahren und legte die restliche Strecke in gemütlichem Tempo zurück.
Auf dem Parkplatz seiner High School war bereits eine Menge los. Schüler parkten ihre Autos, Motorräder, Roller und Fahrräder. Sie saßen auf den Treppen und Wiesen, oder begaben sich auf direktem Weg in eines der drei hell gestrichenen, zweistöckigen Gebäude. Die Mountain Creek High war eine der größten Schulen in der gesamten Umgebung. Auch Schüler aus umliegenden Ortschaften lernten hier. Knapp eintausendfünfhundert Schüler besuchten somit diese Schule.
Ryan schloss sein Rad an und setzte sich auf die Lehne einer nahe stehenden Bank, die im Schatten einer alten Kastanie stand und ihm nach der Anstrengung gleichzeitig ein wenig Kühlung brachte. Ein Blick auf sein Handy sagte ihm, dass er eigentlich viel zu früh war, doch er vertrieb sich die Zeit mit seinem liebsten Hobby: Kritzeleien. Er zeichnete, wie fast immer, Drachen, die Furcht einflößende Grimassen schnitten und Feuerfontänen spuckten. Dabei vergaß er alles um sich herum und blendete die vereinzelten Tuscheleien seiner Schulkameraden aus. Er hatte sich daran gewöhnt und wenn sie in ihm einen Streber, einen Freak oder was auch immer sehen wollten, dann störte ihn das nicht.
Eine bekannte und geliebte Stimme schreckte ihn jedoch wieder aus seinen Gedanken auf, worauf er sich abrupt umwandte. Lächelnd begrüßte er das Mädchen, das nun auf ihn zukam.
Sie gab ihm zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Michelle Mackins war eine umwerfend hübsche Blondine, schlank, mit hüftlangem Haar und strahlend blauen Augen. Ryan und Michelle kannten sich seit ihrem vierten Lebensjahr und wurden kurz darauf wirklich wahre Freunde.
Michelle war damals mit ihrer durchgeknallten, aber sehr netten Mutter nach Mountain Creek gezogen, wo sie sechs Jahre später auf die gleiche Weise eine Schwester bekam, wie sie einst gezeugt worden war. Auf dem Rücksitz im Autokino. Zumindest wurde es im Ort so erzählt. Susan Mackins war eine wirklich außergewöhnliche Frau. Wann immer sie Ryan zu Gesicht bekam, warf sie kreischend ihre Arme um ihn und zog ihn in eine feste Umarmung. Während Ryan darüber eigentlich nur lachen konnte, seufzte Michelle jedes Mal genervt auf und verdrehte die Augen. Sie schämte sich nicht für ihre Mutter, doch ein bisschen weniger Aufriss wäre manchmal auch ganz nett,
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