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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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gelehnt, und haben geschmökert, den Kormoranen beim Fischen zugeschaut oder ein Schläfchen gehalten. Als sie gestorben waren, haben wir ihre Asche hier verstreut. So sind sie für immer hier, und wir können kommen, wann wir wollen, um an sie zu denken. Das ist schön, oder?«
    »Ja«, sagte er. Und sein Blick verlor sich in der Ferne.
    Die Sonne strich über die Klippen, verwischte die Kanten, beleuchtete den Felsen und die grasbewachsenen Hänge, vergoldete das trockene Heideland. Alles war in ein sanftes, ein toskanisches Licht getaucht. Ein paar Meter entfernt stand Alex, die Hände in den Taschen, dem Ansturm des Windes ausgesetzt, der seine Jacke blähte, und fixierte mit zusammengekniffenen Augen den Horizont.
    »Alles klar?«
    Er zuckte die Schultern, zehn Jahre zuvor hatte ihr Tod ihn umgeworfen, mich natürlich auch, aber das war nicht ganz dasselbe, er war immer der ideale Sohn gewesen, hilfsbereit und gehorsam, dankbar, liebevoll und höflich, wohingegen ich nur ein jähzorniger, widerspenstiger, labiler und verdruckster Junge war, der sich nach und nach zu einem undankbaren, egoistischen, distanzierten und kühlen Erwachsenen entwickelte. All die Jahre hatte er perfekt die Rolle des Lieblingssohns gespielt, ihres »echten« Sohns im Grunde. Er war der Untröstliche, meine eigenen Gefühle spielten keine große Rolle. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, ich weiß nicht, wen von uns beiden meine Geste seltsamer berührte, sie war zugleich normal und vollkommen neu. Wir gingen ein Stück nebeneinander, am Rand des Pfads wuchs Ginster, wenn man sich bückte, konnte man seinen süßen Duft riechen, weiter unten bedeckten vertrocknete Farne die Hänge bis hinunter zu den Schieferfelsen. Ich wäre gern von Erinnerungen überwältigt, von zittrigen Bildern überflutet worden, aber alles blieb ungreifbar und unscharf, Mamas Gesicht Papas Stimme, ihre Manien ihre Gewohnheiten, ihre Gegenwart und ihre Zärtlichkeit, alles verschwamm in einem unbestimmten, traurigen Gefühl, einer Leere, und nichts war da, was sie ausfüllen konnte.
    Wir machten kehrt, auf ihrem Felsen spielten Nadine und die Kinder Tiere-Raten. Hinter ihnen nagte die Sonne an der Pointe de la Varde und der Halbinsel, schließlich wurde sie aber selbst verschlungen und ging in einem Meer von Orange- und Rottönen unter.
    »Sag mal, kannst du heute Nacht die Kleinen nehmen?«
    Alex warf mir einen argwöhnischen Blick zu. Er misstraute mir, nicht zu Unrecht, aber ich hatte nicht die Absicht, ihm irgendetwas zu erklären.
    »Wenn du willst. Nadine wird sich freuen … Ich mich auch.«
    Drei Möwen segelten die Steilküste entlang, vom Aufwind getragen, schienen sie weniger zu wiegen als Luft, geschmeidig und gewandt kurvten sie umeinander herum und zogen Bahnen ohne Logik.
    »Und … mit ihr?«
    »Was?«
    »Ich weiß nicht. Hast du mit ihr geredet?«
    Er versuchte, sich eine Zigarette anzustecken. Die Flamme des Feuerzeugs flackerte im Wind und erlosch. Er nahm einen ersten Zug und zeigte mir schulterzuckend seine Camel. Er hatte schon vor Jahren aufgehört zu rauchen.
    »Worüber soll ich mit ihr reden? Sie wird sich irgendwann entscheiden, glaubst du nicht? Und wenn er das Rennen macht, dann von mir aus gern so spät wie möglich.«
    Die Kinder waren aufgestanden, Nadine hatte ihnen die Reißverschlüsse zugemacht und die Schals umgebunden, mit dem abnehmenden Licht kam die Kälte.
    »Was mich verrückt macht, ist, dass sie mir glücklich vorkommt wie nie. Ich meine, sogar mit mir, wenn wir zu zweit sind, ist es … ich weiß nicht. Wie vorher …«
    »Vor was?«
    Er gab keine Antwort. Nadine kam auf ihn zu, sie wurde wirklich jeden Tag schöner, sie wirkte gelöst, etwas in ihr hatte sich entkrampft und sich entschlossen zu strahlen. Sie lächelte ihn an, mit einer großen Portion Liebe und Zärtlichkeit, würde ich sagen, und dann legte er seinen Arm um sie, und sie blieben eine Weile eng aneinandergelehnt stehen. Wenn man sie so sah, hätte man nicht vermutet, dass sie eine solche Geschichte durchmachten. Manon kuschelte sich in meine Arme, sie rieb sich die Augen wegen des Winds, in den letzten Tagen war sie mir sonderbar ruhig und still vorgekommen, wie betäubt. Oft starrte sie ins Leere, träumte von ich weiß nicht was. Dann fragte ich sie, ob alles in Ordnung wäre, und sie antwortete mit ihrer kleinen zerknitterten Stimme, ja, sie würde nur denken.
    »Woran denkst du?«, fragte ich.
    »An das Leben.«
    »An das Leben?«
    »Ja. An

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