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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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Disziplinarmaßnahme ergreift, aber, wissen Sie, eine zweite Chance wird Clément nicht bekommen.«
    Sie drückte mir die Hand, und wir machten uns auf den Weg. Manon war in meinen Armen eingedöst, und mein Rücken sandte mir Notsignale. Ich hätte gern gebetet, dass es aufhören soll, ich hätte gern noch genug Illusionen dafür gehabt, der Tag wurde zum Albtraum, aber mich wunderte nichts mehr, schon seit Monaten wartete ich auf das Erwachen, seit Monaten war ich darauf gefasst. Ich befreite meine rechte Hand, um Clément übers Haar zu streichen. Er hob den Kopf und lächelte. Es brachte nichts, jetzt zu diskutieren, ich kannte ihn besser als jeder andere, ich konnte mir die Szene ungefähr vorstellen, dieser Junge hatte Streit gesucht und zu Clément irgendwas über seine Schwester oder, noch schlimmer, seine Mutter gesagt, das entschuldigte nichts, aber ich konnte es verstehen, im Gymnasium hatte ich mich so oft wegen solcher Sachen geprügelt, am Schluss wegen Caroline, alle nannten sie Hure oder Schlampe, sie hatte sich unheimlich verändert, sie schminkte sich zu stark und trug zu kurze Röcke, öffnete zu viele Knöpfe an ihrer durchsichtigen weißen Bluse, selbst ich erkannte sie kaum wieder, sie schlief mit all den Typen, aber nie mit mir, du bist wie ein Bruder, das wäre eklig, sagte sie, bevor sie ihre Lippen auf meine Wange presste, meine Hand nahm und mich weiß Gott wohin zog, ich folgte ihr wie ein kleiner Hund, begierig auf ihr kleinstes Lächeln, ich nahm, was sie mir zu geben bereit war, Zeit ihre Gesellschaft Geheimnisse alles war gut, alles genügte mir, das letzte Mal beim Bowling hatte es mich zwei Zähne gekostet, und Alex hatte mich mit blutender Nase aufgelesen, zu Hause unter die Dusche gestellt, den Brauenbogen mit Alkohol behandelt, was willst du mit diesem Mädchen, sagte er, warum lässt du dich so zurichten für diese Verrückte, siehst du nicht, dass sie mit dir spielt, siehst du nicht, dass sie dich behandelt wie einen verdammten Köter? Ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn er den Wattebausch auf die Wunde drückte.

Sie warteten schon ungeduldig auf dem Parkplatz. Wir mussten durch den Schlamm waten, bis wir zu ihnen auf die Böschung gelangten. Nadine breitete weit die Arme aus, um die Kleinen einzufangen, sie liefen über das Moos und stürzten sich auf sie. Alex zeigte auf seine Uhr und schüttelte verdrossen den Kopf. Wir gingen querfeldein, um auf den Küstenpfad zu kommen, die blasslila blühende Winterheide schmückte das von rostbraunen Flechten überzogene Land. Im Frühjahr wuchs in Massen Samtgras, weiter entfernt von der Küste Fenchel, wilder Knoblauch, Winden, Veilchen und diese kleinen roten Blümchen, die nach Curry riechen. Aus ihren abgestorbenen, strohtrockenen Wedeln würden die Farne wieder sprießen. Wir näherten uns dem Meer, jeder Schritt tauchte uns tiefer ins Licht. Der Wind hatte die Wolken fortgeschoben, alles war goldüberflutet, unter dem intensiv blauen Himmel war das Grün der Landzungen sehr dunkel, die Felsen glänzten, hoben sich klar und deutlich gegen das graublaue Wasser ab. Die Kinder hüpften von Stein zu Stein, manchmal überwältigte mich ihre bloße Gegenwart. Ich dachte an Bréhel und das, was er mir zwischen zwei Gläsern gesagt hatte: Wenn die Kindheit eine glückliche Zeit war, dann vor allem für die Eltern. Seine Kinder waren groß geworden, und im Grunde war es nur ein unumkehrbarer und langsamer Trennungsprozess. Sie waren jetzt so weit weg, dass sie fremd wurden, dieser pummelige Blondschopf und dieses blässliche Mädchen, die sich an ihn klammerten, wo waren sie jetzt? Nur eine Erinnerung blieb von ihnen, eine Spur, ein Gefühl auf der Haut, dort, wo sie ihre Lippen aufgedrückt, ihre Köpfchen angeschmiegt hatten.
    Die zerklüfteten Granitfelsen der Landzunge schoben sich weit ins Meer, an der äußersten Spitze hatte man das ganze Land im Rücken, dieses Randgefühl liebte ich über alles. Ich holte ein paar Kekse aus meiner Tasche und gab sie den Kindern. Sie schienen froh, hier draußen zu sein, die Nase im Wind, und mit vollem Mund die wilden und sanften Formen der Küste zu betrachten.
    »Weißt du, warum wir heute Abend hierher gekommen sind?«, fragte ich Clément.
    »Nein. Aber es ist cool.«
    »Das war nämlich der Lieblingsplatz meiner Eltern. Sie haben jede Woche hier gepicknickt. Danach sind sie zwei oder drei Stunden spazieren gegangen. Oder sie sind wie wir hier sitzen geblieben, mit dem Rücken an einen Felsen

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