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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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alles.«
    Ich setzte sie auf meine Schultern. Einen Augenblick fragte ich mich, ob sie nicht ein wenig dünn geworden war, ich konnte in der Schulkantine nicht dabei sein, um aufzupassen, was sie aß, und zwischen der Désiles und mir herrschte kalter Krieg, ich erhielt keinerlei Information; der heutige Vorfall würde die Sache nicht besser machen.
    »Wo steckt Clément?«, wollte sie arglos wissen.
    Trällernd blickte sie von ihrem Hochsitz aus in die Runde, aber außer dem schaumgekrönten Meer und der unendlichen Folge von Stränden und Felsen war da nichts, tief unten glitten im letzten Tageslicht die Eissturmvögel über das Wasser. Alex und Nadine lösten sich voneinander. Auch sie hatten nicht die geringste Ahnung, wo der Junge sein konnte. Ich rief seinen Namen, meine Stimme verlor sich im Tosen der Brandung, kaum meinem Mund entschlüpft, wurde sie geschluckt und zermalmt. Dann riefen wir alle, mehrere Minuten lang, aber niemand antwortete, der Wind pfiff, und die Möwen kreischten panisch. Ich setzte die Kleine auf die Erde, vertraute sie Nadine an und machte mich mit Alex auf die Suche, er ging nach Osten und ich nach Westen, wir konnten nicht mehr viel sehen, und das Meer machte einen schrecklichen Radau, als hätte jemand die Lautstärke aufgedreht, nachdem die Sonne verschwunden war. Ein Kaninchen brach aus dem Gebüsch, nahm Reißaus in Richtung Meer, und ich fragte mich, wo es Zuflucht finden würde, ob es sich hinter einem Felsen verstecken oder ins Leere stürzen würde, ich schrie nach Clément, und in meinen Schläfen pochte es wie ein Trommelfeuer. Wege führten landeinwärts, aber ich lief weiter am Meer entlang, die Kliffs in der Ferne waren nur noch eine schwarze, kompakte Masse und der Himmel ein dunkelblaues Laken mit einer rosa Borte. Aus dem Wasser und dem Gestein stiegen Geräusche auf. Alles saugte sich voll mit Feuchtigkeit, die Erde die Wege die niedrigen Gräser und das Moos, und um mich drehte sich die Welt. Zu meiner Rechten bemerkte ich einen Schatten, ich rief Clément, aber nichts rührte sich, ich trat trotzdem näher, und er war es, von da, wo ich war, sah es aus, als schwebte er in der Luft, man hätte meinen können, er stünde wirklich ganz am Rand, an manchen Stellen ging es senkrecht hinunter, und das Meer spuckte schäumende Gischt. Ich machte noch ein paar Schritte, ich konnte ihn fast berühren, er starrte in den Abgrund. Ich flüsterte seinen Namen. Er rührte sich nicht, er schwankte nur ein wenig, bewegte sich leicht vor und zurück, jeden Augenblick konnte er kippen, ich mochte nicht glauben, dass er es tun würde, ich näherte mich ihm leise wie einem scheuen Tier, ganz behutsam, als könnte er jederzeit davonfliegen. Schließlich streckte ich den Arm aus und packte ihn am Kragen. Er zuckte zusammen, als hätte er mein Kommen nicht gespürt. Ich hielt ihn fest. Ich ging mit ihm vier oder fünf Schritte rückwärts. Plötzlich beruhigte sich alles, Wind Meer Vögel, alles schien trocken zu werden, und der Tag wich der Nacht. Es herrschte auf einmal tiefe Stille, ich sah uns, als hätten wir uns abgespalten, als zwei Nadelspitzen in der ungeheuren Unendlichkeit, vor der unsichtbaren Küste, dem Himmel, den Feldern und den Fluten. Clément drehte sich zu mir um, sein Gesicht war friedlich, und er lächelte mich an.
    »Alles klar, Papa?«, fragte er sanft.
    Ich zog ihn in meine Arme, darauf wusste ich nichts zu erwidern, nichts, außer dass ich ihn liebhatte, es gab nichts anderes zu sagen oder zu tun, oder ich wusste nicht, was, ich hatte schon so lange vergessen, wie es geht, so lange schon die Gebrauchsanleitung verloren.
    »Was ist los, Papa?«
    »Nichts … Ich … Ich hab Angst gehabt. Das ist alles. Was hast du da gemacht, so nah am Rand?«
    »Ich hab nur das Meer angeschaut. Aber ich war gar nicht ganz am Rand.«
    Ich ging ein Stück vor, schaute nach unten, und er hatte recht, der Felsen lief in einen Grasteppich aus, im Frühjahr würden die Strandgrasnelken ihre zarten rosa Köpfe recken, erst zwanzig Meter weiter ging es richtig in die Tiefe.
    »Du hast immer Angst.«
    Ich strich ihm übers Haar, ich kitzelte ihn ein bisschen, er lachte auf, und wir gingen zu den anderen, Alex hatte irgendwann kehrtgemacht und wartete auch auf uns, ganz zermürbt vor Gram.
    »Alles gut«, sagte ich, »Clément wollte sich nur ein wenig die Beine vertreten.«
    »Du hättest ja was sagen können.«
    Er sah wütend aus. Der Kleine entschuldigte sich halbherzig, er habe es

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