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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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für den kommenden Tag angekündigt. Er legte einen Finger auf den Mund, ich konnte ihm vertrauen, er würde schweigen wie ein Grab. Das Rauschen des Regens übertönte alles, überall stieg das Wasser, jeden Augenblick würde der Wohnwagen von den Fluten mitgerissen werden, man konnte nur noch beten, dass er schwamm oder dicht war, Bréhel und ich würden, wie in einem umgedrehten Aquarium, im Trockenen sitzen und vom Wasser eingeschlossen sein. Schließlich legte ich auf und schaute auf die Uhr. Mein nächster Schüler wartete.
    Yann lehnte geduldig an einer Mauer, Kühlwagen schlossen ihre Hecktüren über Kisten mit Krebsen und Meerspinnen. Dann sah ich ihn mitten durch die öde Landschaft auf mich zukommen, die Heide war unter dem Schnee um tausend Jahre gealtert, etwas an ihr schien noch kahler, strenger, wilder, als wären der Fels dunkler, die Konturen härter, das Gras kürzer. Nichts als Dornenranken und Disteln, vom Kliff gestürzte Brocken, gebrochene Linien, Geröll, Steinmeere. Er setzte sich ans Steuer und verkündete mir mit fiebrigen Augen, er sei Papa geworden. Der Kleine heiße Quentin und sei zwei Monate zu früh gekommen. Es war also ein Junge, und man müsse zu Hause alles verändern, das Zimmer war von den Wänden bis zur Wiege rosa. In seinem Brutkasten sehe er so winzig aus. Wir fuhren los, es war das letzte Mal, in zwei Tagen hatte er seine Prüfung, dass er durchfiel, war nicht zu befürchten. Ich mochte ihn. In all den Stunden, die ich damit verbracht hatte, durch die Landschaft zu gondeln und ihm zuzuhören, war er mir ans Herz gewachsen. Ich wusste alles über sein Leben. Oder jedenfalls das Wichtigste. Ich ließ ihn vor dem Krankenhaus aussteigen, er würde seine Liebsten besuchen, ich beneidete ihn um seine Energie und seine Zuversicht, ich bewunderte seinen Glauben ans Leben, er tauchte kopfüber hinein wie in klares Wasser. Zum Abschied hatte er zwei Hummer für mich auf die Rückbank gelegt. Die Biester zappelten in den Plastiktüten. Man hatte ihnen mit dicken Gummis die Scheren zusammengebunden.

Schon an Manons Gesicht sah ich, dass etwas nicht stimmte: Ihre Wangen waren feucht von Tränen, und sie drückte schniefend ihren weißen Teddybären an sich. Auf dem Flur war nicht mehr Halloween, sondern schon Weihnachten, Wichtel trieben ihr Unwesen, und die Fenster waren mit Bildern beklebt, auf denen an dürren Tannen unförmige Kugeln und auf einen Strich reduzierte Girlanden hingen. Ich betrat das Klassenzimmer, und Manon stürzte sich in meine Arme, man hätte meinen können, sie erwachte aus einem ihrer Albträume, die sie immer wie betäubt zurückließen, voller Schrecken und Angst vor dem Dunkel und der Stille einer in Schutt und Asche gelegten Welt. Die Kinder starrten uns an, reglos und stumm, mit offenen Mündern. Die Kleine schien untröstlich, ich beschwor sie, sich zu beruhigen und langsamer zu sprechen. Schließlich holte sie tief Luft, bevor sie mit bebender Stimme hervorbrachte:
    »Es ist wegen der Lehrerin. Sie hat mich an den Haaren gezogen und in den Arm gekniffen.«
    »Was?«
    Ich drehte mich zu der Lehrerin um, aus ihren Augen sprachen die Angst und das schlechte Gewissen. In meinem Kopf brodelte es.
    »Was hat das zu bedeuten?«
    Ich weiß noch immer nicht, was mich gehindert hat, ihr eine zu schmieren. Ich wurde alt. Eine andere Erklärung habe ich nicht. Brav wartete ich, bis sie auspackte, vor der Tür begannen sich die Eltern zu sammeln, doch niemand traute sich herein, die Désiles warf ihnen panische Blicke zu. Schließlich gestand sie mir alles: Manon verweigerte sich, man kriege nichts aus ihr heraus, sie sei zerstreut, und an diesem Nachmittag hätte sie die Grenze endgültig überschritten, zuerst habe sie sie dabei erwischt, wie sie sich mit der Schere kleine Haarsträhnen abschnitt, und dann hätte sie sich Farbe auf die Wangen geschmiert und sie gegessen, sie hätte sich geweigert, die Tube wegzulegen, und geschrien wie eine Wahnsinnige, sie habe eingreifen müssen, es sei nicht mehr anders gegangen. Ihre Fratze widerte mich an. Ich nahm Manon an der Hand und zog sie in den Flur. Wir nahmen ihre Tasche und den Mantel. Ich half ihr, den Reißverschluss zuzumachen. Ihr schmales Gesicht war rot und erschöpft.
    »Warum hast du die Farbe gegessen?« fragte ich sie leise. »Du weißt doch, dass man keine Farbe isst. Und das ist auch keine Schminke, das weißt du doch auch, oder?«
    »Ich wollte sie doch nur probieren. Bist du mir böse?«
    »Nein, ich

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