Gegenwinde
Hafeneinfahrt. Der Regen hatte aufgehört, das gelbe Licht schluckte den schwarzen Himmel über dem graugrünen Wasser. Ich schloss die Augen, ohne zu schlafen, und wartete. Dass die Flut mich mitnahm und davontrug. Ab und zu warf ich einen Blick hinaus und sah sie kommen. Bald spürte ich, wie das Boot angehoben wurde. Es schwamm, ohne sich fortzubewegen, von allen Seiten umzingelt, ein leichter Wind ließ die Stahlseile am Mast klingeln. Die Wellen, sanft wie Seide, schienen mich mitzunehmen. In vier oder fünf Stunden würden sie mich auf dem Sand absetzen, und ich würde mich fühlen wie nach einer Überfahrt.
Zwei Tage später nahm ich die Arbeit wieder auf. Nadine hing am Telefon, sie strahlte etwas geradezu Heiliges aus. Ihr Haar fiel offen herab, ihr Gesicht bestand nur aus Augen, sie mussten über Nacht größer geworden sein. Ich griff nach dem Tagesplan, Alex hatte mir einen neuen Schüler zugeteilt, er hatte ihm in ein paar Stunden das Gröbste beigebracht, und jetzt war ich dran, ein Achtzehnjähriger, der im selben Häuserblock wohnte wie Justine. Ich trank meinen Kaffee aus und ging, Nadine winkte mir zum Abschied, den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, ihre Blässe schien geradezu unwirklich.
Bréhel wartete am Eingang des Campingplatzes auf mich, es war seine letzte Stunde, und er war angespannt, wir wollten ein paar Schritte gehen, bevor wir losfuhren. Im Osten der Halbinsel lag der Strand bloß, und ein Felsen war erreichbar. Wir kletterten hinauf, dreißig Meter über dem Wasser rauchten wir unsere Zigaretten, die Nase im Wind, mitten im Himmel. Er bot sich uns in unendlicher Vielfalt dar: violette Wolkenbänder, Lichtdusche und diagonaler, gelber Regenvorhang, nichts fehlte. Die Mischung aus kräftigem Blau und strahlendem Weiß in der Ferne würde nicht mehr lange halten, die Wolken jagten mit 80 km/h dahin, und auf dem Sand flohen breite Schattenstreifen auf die Landzungen zu, dann übergoss die Sonne wieder alles mit neuer Farbe, es war faszinierend, die Bewegung des Lichts zu beobachten, seinem irren Lauf zu folgen. Das Meer zu unseren Füßen wogte heftig, die Kormorane scherten sich nicht darum, wir sahen sie untertauchen und ein paar Sekunden später wieder auftauchen, sie reckten den Hals, aus dem winzige silberne Fische glitten. Die Zeit lief, wir mussten uns losreißen, das Auto erwartete uns im Schatten einer großen Kiefer, seine Vorderräder steckten im weichen Sand.
»Wir tun so, als wäre heute Prüfung«, kündigte ich an.
Sein Gesicht verzerrte sich, er knirschte mit den Zähnen, das schien ihm nicht zu gefallen, ein Schulkind, das von einem Überraschungstest kalt erwischt wird. Ich öffnete mein Fenster, der Seewind fuhr herein, das Meer schloss sich nach und nach um die Halbinsel, der Reif auf den Dünen schmolz. Seine Hände zitterten leicht, sein Nacken war steif, ich fragte mich, was los war. Bevor er startete, tastete er noch einmal nach jedem Pedal und jedem Schalter, man hätte meinen können, er entdeckte das alles zum ersten Mal.
»Wir fahren zuerst zum Dorf«, sagte ich. »Dann über die kleinen Sträßchen auf die Schnellstraße. Zum Schluss machen wir noch eine Runde durch die Altstadt. Einmal rückwärts einparken, zwei, drei Theoriefragen, und das war’s dann. Okay?«
Ich improvisierte, ich hatte keine Ahnung, wie so etwas genau ablief, soviel ich wusste, lief es ähnlich wie eine normale Fahrstunde, es genügte, ein paar Anweisungen zu geben und zu schweigen, bis der Schüler einen Fehler machte. Er sah ganz verschreckt aus. Wir machten uns auf. Die löchrige Piste verlief quer über den Campingplatz, im Westen braute sich etwas zusammen, jeden Augenblick drohte ein Schauer niederzugehen, fliehen nützte nichts. Wir drangen trotzdem tiefer ins Land ein. Pferde ragten unbeweglich aus der Landschaft der Kohl- und Kartoffelfelder auf, kilometerweit sichtbar. Bréhel fuhr wie ein Anfänger, er gab zu viel Gas, schaltete ruckartig, reihte Fehler an Fehler, vor Stoppschildern machte er eine Vollbremsung, an unbeschilderten Kreuzungen bremste er dafür gar nicht. Es begann zu schütten. Ein prasselnder, vom Wind gepeitschter Regen überschwemmte die Windschutzscheibe.
»Und wie wär’s mit dem Scheibenwischer?«, fragte ich.
Bréhel entschuldigte sich. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen.
»Macht nichts«, sagte ich. »Das ist der Druck. Besser es passiert heute als morgen.«
Er nickte, aber das war nur Fassade, in drei Tagen hatte er einen
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