Gegenwinde
seinem Nachbarn mit dem kahl geschorenen Schädel und der kleinen runden Brille, einem buddhistischen Priester, der die ganze Zeit lächelte und ihm literweise Sake zu trinken gab, von den Brachflächen und den Kanälen, den aufgegebenen Bahnstrecken, den Hügeln und den Patchinko-Spielern, den Froschspießen und den Torii-Gängen im Gebirge. Ich brauchte nur die Augen zu schließen und ging mit ihm durch den Schnee, hörte das Krächzen der Raben und die Litanei der Gebete, das kleine Schnalzen der Karpfen an der Wasseroberfläche.
»Und wie geht’s dir, schaffst du es?«
Seine Frage brachte mich jäh wieder auf den Boden zurück, sie wirkte wie eine kalte Dusche. Ich belästigte Tristan nicht gern mit meinen Geschichten. Es gefiel mir, dass zwischen uns die Dinge leicht und sanft waren. Aber irgendetwas sagte mir, dass es an der Zeit war, mich zu wehren, ich hatte genug bezahlt, ich hatte es ganz allein durchgestanden, der Zeitpunkt war gekommen, um Gnade oder um Hilfe zu bitten. Also antwortete ich, nein. Nein, ich schaffte es nicht, ich hätte geglaubt, hier aufatmen zu können, etwas Ruhe zu finden, aber die Last sei zu schwer, jeder Tag bringe seinen Haufen Ärger, fiele mir in den Rücken, breche mir die Glieder. Mit den Kindern wüsste ich nicht mehr ein noch aus, sie nähmen sich zusammen, aber im Grund seien sie am Boden zerstört. Etwas in ihnen sei zerbrochen, nichts würde das je wieder heilmachen können. Man könnte nicht viel tun, der Handlungsspielraum würde von Tag zu Tag geringer, man könnte nur bei ihnen sein, sie so gut wie möglich begleiten, ihnen beibringen, wie man mit einem Loch im Herzen und Wind in der Brust funktionieren kann.
»Tristan, ich habe dich nie gefragt. Was denkst du eigentlich?«
»Worüber?«
»Über Sarah.«
Am anderen Ende der Leitung hörte ich ein großes Schweigen, nur das Knarren seiner Schritte und ab und zu die ungewohnte Musik einer fremden Sprache. Ich stellte mir vor, dass er in den Hügeln an Holzhäusern mit Papierwänden entlangging, einige Ahornbäume glühten noch rot, die meisten aber hatten ihre Blätter schon verloren, die wie Blutstropfen im Schnee lagen. Einmal glaubte ich einen Affen schreien zu hören, aber ich war mir nicht sicher.
»Ich denke nichts, Paul. Ich denke, was du denkst. Nur du kannst es wissen. Das habe ich immer gedacht. Von außen weiß man nichts von dem, was sich zwischen Menschen anbahnt, was sich bei einem Paar abspielt. Man stellt Vermutungen an, vertritt voreilige Ansichten, aber im Grunde weiß man nichts, es geht viel tiefer, ist viel komplexer.«
»Was willst du damit sagen?«
»Nichts. Bloß dass nur du wissen kannst, ob sie dich verlassen haben kann oder nicht. Euch verlassen haben kann. Wenn du glaubst, nein, das ist unmöglich, dann denke ich wie du.«
»Und wenn nicht?«
»Wenn nicht was?«
»Wenn es das nicht ist. Ich meine, wenn sie nicht abgehauen ist … Ich weiß, alle denken das, dass ich ihr auf den Wecker gegangen bin, dass ihr Job sie fertiggemacht hat, dass sie das Gefühl hatte, die Decke fällt ihr auf den Kopf, und dass sie Luft brauchte, sich selbst finden, für sich leben wollte und dieser ganze Quatsch. Ich weiß genau, dass alle das denken. Oder dass sie mit einem Typen durchgebrannt ist, der sie besser fickt als ich, und ich sag’ dir, sogar das wäre mir recht. Aber das ist es nicht.«
»Was soll ich dir sagen? Wenn es das nicht ist, dann weißt du selbst …«
»Ja, ich weiß. Aber die Kinder. Es geht so nicht weiter. Ich weiß nicht mehr, was ich ihnen sagen soll.«
»Du musst es so machen wie bisher, Paul. Du musst ihnen die Dinge sagen, wie sie sind. Man weiß nicht, wo sie ist. Vielleicht kommt sie zurück, vielleicht nicht. Vielleicht ist sie tot. An diesem Punkt bist du. So steht es.«
Wir diskutierten noch eine Weile, ich musste einfach reden, Tristan ging an einer Bahntrasse entlang, die Züge rasten an den niedrigen Häusern vorbei, und bei jedem Bahnübergang hörte ich das Klingeln der zu- und aufgehenden Schranken. Als wir uns verabschiedeten, war er wieder im Zentrum, am Ufer des Kamo, die Sonne schien und hatte den Schnee dort geschmolzen. Kinder sprangen von Stein zu Stein, um den Fluss zu überqueren, manche der Steine hatten die Form von Schildkröten, und am anderen Ufer übte ein Mann Posaune. Von seinem Platz aus konnte Tristan den Lawson-Supermarkt sehen, die Typen an der Kasse waren als Elche verkleidet und die Mädchen als Weihnachtsfrau, auch dort rückten die
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