Gegenwinde
zehnte Stunde nahm, war das nicht toll: Er kam mit den Pedalen nicht zurecht und hatte Schwierigkeiten, die Spur zu halten. Wenn es nicht nur aus Zorn war. Ich wartete eine breitere gerade Straße ab, um die Unterhaltung fortzusetzen.
»Ist sie eine Freundin von dir?«
»Wer?«
»Justine.«
»Ja. Ich kenne sie seit der Vorschule.«
Ich sah ihn aus dem Augenwinkel an, er hatte etwas von einem ölverschmierten Vogel, und mit seinem ängstlichen Blick, seinem stummen Schmerz erinnerte er mich an jemanden, Caroline war schließlich abgedriftet, und ich hatte ihr nicht mehr helfen können, ich versuchte noch, sie festzuhalten, aber die Strömung war zu stark. Manchmal wurde sie wieder angetrieben, jedes Mal magerer und erschöpfter, knochiger und düsterer, mit leerem Blick. Ich hätte ihr gern Halt gegeben, aber es war zu spät, sie war schon zu weit weg, war nicht mehr oft daheim, ging nicht mehr in die Schule, nahm wahllos alles, schlief mit jedem, trank, was ihr unter die Finger kam. Vergeudete ihre Tage und Nächte mit älteren Männern, die ausgehungerte Hunde mit sich führten. Sie schlief in ihren Lastwagen, im Sommer drang sie in irgendeine Kapelle ein oder ließ sich im Morgengrauen in den Sand fallen. Manchmal, selten, nahm sie mich mit, und ich setzte mich in eine Ecke, große Feuer prasselten unter den Sternen, und Typen mit roten Haaren spuckten Flammen, bevor sie haufenweise bunte Pillen einwarfen. Ein- oder zweimal hatte ich Spritzen rumgehen sehen. Vor mir hatte sie sich nicht getraut, aber wenn man sah, wie ihre Augen leuchteten, war man schon bedient. Sie fickte in den Dünen, ich verbarg mich im Strandhafer, ich sah nichts, hörte alles, ich biss die Zähne zusammen und flennte. In der Klinik wirkte sie vollkommen verloren, ihre Eltern hatten sie schließlich hingebracht, nachdem sie sie im Bett ihrer kleinen Schwester halbtot in ihrer Kotze liegend gefunden hatten. Bevor ich sie besuchte, hatte ich eine vergoldete Brosche aus Mamas Schatulle genommen und in orangefarbenes Papier eingewickelt, sie betrachtete sie stundenlang, fasziniert vom Glitzern und Schimmern. Danach war es vorbei, ich habe sie nicht wiedergesehen. Am nächsten Tag war ihr Zimmer leer. Monate später begegnete ich ihr vor dem Bahnhof von Rennes, sie bettelte mehr oder weniger, zusammen mit drei Männern, sie hatte sich den Schädel rasiert, ihre Augen waren tot, ihre Haut fast durchsichtig. Am Revers ihrer Militärjacke trug sie Mamas Brosche. Zu der Zeit verließ ich kaum mehr mein Zimmer, die Briefe aus der Schule stapelten sich in meinen Schubladen, und meine Eltern taten so, als sähen sie nichts. Unsere kleine Familie lebte ihr Leben wie jeder, der auf seinem Päckchen von Ungesagtem sitzt. Mama schwieg, wenn sie Tütchen mit Shit unter meinem Bett fand, und sie schwieg auch, wenn ich meinen Teller nicht anrührte und das Klo nach Kotze stank. Sie begnügte sich damit, die Fenster zu öffnen und mich zurzeit ein bisschen blass zu finden. Ich kleidete mich nur schwarz, streifte nie meine unruhige Miene ab, gab mich nur zerbrechlich und kränklich und brachte meine Tage damit zu, durch den Schulpark zu geistern, Requiem und Stabat Mater im Walkman, ein Buch in der Hand und ein Heft in der Tasche, das ich mit fieberhaften Gedichten vollschrieb. Würde ich mir heute begegnen, hätte ich, glaube ich, Lust, mir eine zu scheuern.
»Und was denkst du?«, versuchte ich es.
»Was denke ich worüber?«
Er hatte wahrhaftig die blöde Manie, meine Fragen mit einer Gegenfrage zu beantworten. Ich hasste diese Art zu lavieren und um den heißen Brei herumzureden.
»Du weißt genau, wovon ich spreche«, erwiderte ich kurz angebunden.
»Was schert Sie das denn?«
»Es interessiert mich, das ist alles. Pass auf, er hat Vorfahrt.«
Der Kerl am Steuer des Kangoo hupte dreimal, und als er auf unserer Höhe war, tippte er sich an die Stirn, und sein Mund sonderte einen Schwall von Beschimpfungen ab, wirklich ein vollkommener Trottel. Ich hätte gern etwas geantwortet, aber ich musste mit gutem Beispiel vorangehen, also entschuldigte ich mich mit einer machtlosen Grimasse. Er beschleunigte und fuhr mit lautem Motorgeheul knapp an uns vorbei.
»Ich meine, war sie jemand, der davonläuft, deiner Meinung nach?«
»Keine Ahnung. Lustig war’s sicher nicht bei ihnen …«
»Wegen Johnny, meinst du? Bieg links ab.«
Er gehorchte, und nach ein paar Metern befanden wir uns über der Rance, die Straße folgte den Hügeln bergauf und bergab,
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