Gegenwinde
Feiertage näher.
Ich stand von der Bank auf, nachdem ich einen letzten Blick aufs Meer geworfen hatte, das Wasser stieg, ohne Wellen zu bilden, umzingelte nach und nach die Felsen, stetig und still, unerbittlich. Bei Isabelle gingen in den Fenstern die Lichter an. Ich klopfte an ihre Tür. Sie hatte ein schönes, verbrauchtes Lächeln auf den Lippen und hielt einen Brief in der Hand. Von ihrem Sohn, er schrieb aus Kopenhagen.
»Kopenhagen ist nicht so weit«, sagte ich. »Beim letzten Mal war es Valparaiso, Kopenhagen ist ja gleich nebenan.«
Damit hatte ich den Nagel auf den Kopf getroffen, er würde zu Weihnachten kommen, zwei Jahre war er nicht mehr da gewesen, und zu Weihnachten würde er kommen und ein oder zwei Wochen bleiben, sie weinte, ich wischte ihr mit dem Daumen die Tränen ab. Ich küsste sie, und ihr Mund war warm wie ihre nasse Haut. An diesem Abend küssten wir uns nur, streichelten uns über Rücken und Schultern, wir hatten kein anderes Bedürfnis als uns zu umarmen und zu drücken. Durchs Fenster sah ich unser Haus, alles war dunkel. Die Kinder schliefen und die Stadt auch, in der Straße waren alle Lichter erloschen, und wir waren allein, wir wachten in dem kleinen weißen Haus, verloren in der Menge, versunken in der Masse, am äußersten Rand der Welt. Isabelle holte eine Flasche Wodka, und wir leerten sie zu den fließenden Klängen von Schubert-Quartetten, als die CD zu Ende war, wollte ich Klaviermusik auflegen, aber sie war dagegen, von Klavier hatte sie die Nase voll, von Klavier wollte sie nichts mehr hören, ihr Ex spielte Klavier, das war sogar sein Beruf, von einem Tag auf den anderen war er verschwunden, er hatte einen Flug auf eine Pazifikinsel gebucht, dort wollte er von nun an leben. Ihr konnte es im Grunde egal sein, sie hatte ihn nie besonders geliebt, er hatte sie geschwängert, und das Kind hatte sie sechs Jahre lang zusammengehalten, aber für den Kleinen war es übel gewesen, in den ersten Monaten schickte er ihm ab und zu einen Brief, aber das hielt nicht lange an, dieser Schuft hatte dort ein neues Leben angefangen und alles von hier vergessen, und jetzt war sein Sohn zwanzig und verbrachte seine Zeit auf See, wo er Gott weiß was suchte, manchmal war das Leben so vorhersehbar und erbarmungslos, folgte so vorgezeichneten Wegen, man könnte fast darüber lachen, wenn es nur nicht so schmerzlich wäre, wenn es nur nicht so verdammt weh täte. Ich legte noch ein Quartett auf, und wir wechselten das Thema, das Mädchen in der Klinik hatte seine Sprache wiedergefunden, aber es weigerte sich, seine Eltern zu sehen, sie kamen aus Nantes und warteten von morgens bis abends in der Eingangshalle, in der Hoffnung, dass sie ihre Meinung änderte, es waren offenbar sehr einfache und sehr liebe Menschen, sie waren seit sechs Tagen da und verfielen zusehends, sie verstanden nicht, was los war, wenn es so weiterging, würden sie sich in Nichts auflösen.
Die Beerdigung fand auf dem Friedhof nebenan statt, seine Ex wollte, dass der Junge ihn sehen konnte, so oft er mochte, aber was brachte das jetzt, wo er tot war? Das Wetter war scheußlich und geizte mit Licht, ich musste eine halbe Flasche Zubrowska leeren, um hingehen zu können, die andere Hälfte kam gleich danach dran. Es regnete während der ganzen Zeremonie. Schwere sandhaltige Tropfen platzten auf den Marmor, schlammiges Wasser lief über den Kies der abschüssigen Wege. Wir waren nur eine kleine Versammlung unter den Schirmen. Combe hatte sich in einen alten, abgetragenen Anzug geworfen, der Kragen scheuerte an seiner Haut, man spürte, dass er etwas beengt darin war. Seine Schuhe waren ihm unbequem, und als ich seinen Atem roch, dachte ich, dass wir gut zusammenpassten, er und ich. Drei junge Kerle in Uniform, linkisch und mit rotem Kopf, hielten sich abseits, sie kamen aus der Schule und fragen sich, was sie hier sollten, schauten ständig auf die Uhr. Der Kollege des Großen war auch da. Im schwarzen Anzug wirkte er noch gedrungener, bekümmert hatte er mir die Hand gedrückt, ohne ein Wort herauszubringen. Zwischen zwei oder drei Unbekannten, Freunden, nahm ich an, stand ein alter Mann, grau im Gesicht und einen Blumenstrauß in der Hand, groß und mager, ganz das Ebenbild seines Sohnes. Er stellte sich als der Vater vor und warf angstvolle Blicke auf Thomas. Der Junge klammerte sich an seine Mutter und tat, was er konnte. Er schaute um sich, als hoffte er auf Hilfe, Unterstützung, eine Lösung. Sein leicht geöffneter
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