Geh@ckt: Wie Angriffe aus dem Netz uns alle bedrohen. Ein Agent berichtet (German Edition)
Fenster. Eine reine Übersprungsreaktion. Der Marlboro-Mann schien mit dem Auge zu zwinkern: «Na komm schon. Rauch erst mal eine! Setz dich zu mir ans Feuer!»
Ich war fünfzehn Jahre alt. Verdammt, ich wollte nicht rauchen, ich wollte Musik hören! Stattdessen konnte ich jetzt versuchen, das wahrscheinlich völlig ruinierte Band wieder aufzuwickeln. Als ich anfing, meinen Zeigefinger langsam im kleinen Plastikzahnrad der Kassette zu drehen, setzte sich auch die U-Bahn wieder in Bewegung. Verzweifelt kreiste ich mit spärlichem Erfolg weiter am Rad herum.
«Halb so schlimm», sagte ein älterer Herr, der mir gegenübersaß. Er unterhielt sich mit einer jüngeren Dame, aber ich wusste, seine Worte galten mir.
«Hmm?», erwiderte ich gedankenversunken.
«Halb so schlimm», wiederholte mein Gegenüber.
Zweifelsohne hatten der ältere Herr und die jüngere Frau mitbekommen, was passiert war. Von wegen halb so schlimm! Schließlich hatte
er
ja nicht stundenlang vor dem Radio gesessen und in mühevoller Kleinarbeit die beste Kassette seines Lebens aufgenommen! Nicht
er
hatte versucht, den Moderator aus den Anfängen und Enden der Songs zu verbannen – was, nebenbei bemerkt, sowieso so gut wie nie gelang. Zugegeben, jede neu aufgenommene Kassette war die einzige und beste Kassette. Wahrscheinlich hießen sie deshalb auch alle «Best Vol. 1 », «Best Vol. 2 », «Best Vol. 3 » oder «Super Best».
Der ältere Mann war eben ein älterer Mann. Punkt. Was konnte er schon wissen. Wahrscheinlich wusste er weder, wer Thomas Gottschalk war, noch, was überhaupt ein Walkman ist. Ich war mir sicher, dass er gerade so etwas dachte wie: die Jugend mit ihrem Schnickschnack. Früher war doch alles besser!
«Junge», begann er von neuem. Ich sah ihn an. Er beugte sich etwas zu mir nach vorne und sagte: «Du wirst sehen, deine Probleme von heute sind die gute alte Zeit von morgen. Mir ging es genauso.» Er lächelte.
Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. In seiner Stimme hatte beinahe etwas Väterliches gelegen.
Wir fuhren in die nächste Station ein. Der alte Mann ging zur Tür. Als er auf den Bahnsteig trat, drehte er sich noch einmal um und zwinkerte mir zu. Ich sah ihm lange nach, als er die Rolltreppe nach oben in Richtung Ausgang fuhr.
Oft muss ich an diese Geschichte denken, vor allem dann, wenn ich in meiner Heimatstadt bin und U-Bahn fahre. Vieles hat sich seitdem verändert. Die U-Bahn-Station, an der der alte Mann damals ausstieg, allerdings nicht. Auch die Rolltreppe nicht. Sie sieht immer noch so aus wie früher. Die einzelnen Stufen fahren nach wie vor in der gleichen, endlos wirkenden Schleife hinauf und dann, für niemanden sichtbar, wieder hinab. Immer und immer wieder. Wüsste man nicht, dass sie im Kreis verlaufen, würde man ein unerschöpfliches Reservoir an Stufen vermuten. Ähnlich wie bei uns Menschen. Auf unserem Weg gibt es Vor- und Nachfahren. Doch dieser Weg ist nicht so stetig und beschaulich wie der der Rolltreppe. Unsere Geschwindigkeit hat dramatische Züge angenommen. Man muss sich allein nur die Weltbevölkerung betrachten: Sie umfasst momentan rund 7 , 1 Milliarden Menschen. Als der Marlboro-Mann im Wilden Westen gelebt hat, waren es gut sechs Milliarden weniger gewesen.
Viele Jahre hatte ich angenommen, der alte Mann würde recht haben: Jede Generation hat ihre eigenen Probleme, die in der Rückschau der nächsten Generation gar nicht mehr als Probleme gesehen werden. Heute stimmt das nicht mehr. Heute haben wir innerhalb einer Generation mehrere Innovationszyklen. Doch unser Gehirn ist nicht dafür ausgerichtet, alle paar Jahre ein komplett neues Betriebssystem als Grundlage alltäglichen Handelns zu installieren. Neue «Apps» – um in der Sprache der IT zu bleiben – wie «Internet», «Finanzmärkte», «Smartphones», «Soziale Medien» oder «Smart Home» laufen auf den älteren Betriebssystemen nur langsam oder gar nicht mehr.
Inzwischen sind wir in kürzester Zeit immer und überall erreichbar geworden. Weltweite Netzwerke existieren. Der Mensch ist ein soziales Wesen, deshalb war der Schritt zu den sozialen Netzwerken nur logisch. Doch was kommt als Nächstes?
Ein japanisches Computerteam entwickelte 2010 eine Software, die es ermöglicht, unsere Umwelt virtuell zu beschriften. Virtual Reality und Wirklichkeit werden eins. Das ist die Realität. «Augmented Reality» nennt man das, die computergestützte Erweiterung unserer Wirklichkeitswahrnehmung.
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