Geh aus, mein Herz
vermutete, dass er an die siebzig war, aber er bewegte sich flink und sicher, und in seinen Augen war eine Schärfe, die klare Antworten auf Wides Fragen versprach.
»Ich würde gern einige Fotos von früher sehen, falls das möglich ist.«
»Ja?«
»Und zwar vom Sommer 1961 und ’62.«
»Das ist lange her.«
»Haben Sie damals mit dem Fotografieren angefangen? Mit Kinderfotos?«
»Hhmm … ja, das habe ich.«
»Sind noch Negative vorhanden?«
»Natürlich gibt es Negative. Hier herrscht Ordnung.«
»Ich würde die Bilder von diesen beiden Sommern gern kaufen.«
»Zwei Bilder.«
»Ja.«
»Heute ist das nicht zu schaffen.«
»Aha.«
»Morgen früh, um neun können Sie sie abholen.«
»Das wäre prima.«
»Größe?«
»Die Entscheidung überlasse ich Ihnen, A4 oder so.«
»Darf man fragen, wofür Sie die brauchen?«
Was sollte Wide antworten? Dass er sich auf einer Suche in der Vergangenheit befand? Er sprach von der Atmosphäre des Sommerlagers, ließ aber mehr aus, als er sagte. Natanael Maars wiegte den Kopf.
»Ich hab mich da draußen nie wohl gefühlt. Für die Kinder mag es ja einen Moment nett gewesen sein, als ich die Kamera aufstellte und sie sich zusammendrängelten und kicherten, aber wirklich fröhlich ging es dort nicht zu. Das war ein Ort, wo sich niemand wohl fühlte.«
Wide hatte sich auf eine Übernachtung eingestellt: Unterhose, Strümpfe, T-Shirt, ein hellblaues Baumwollhemd und Ersatzjeans. Ein Necessaire mit den bescheidenen Hygieneartikeln eines Mannes. Hemingways »The First Fortynine Storys«, die er kürzlich bei einem Buchhändler zu Hause gefunden hatte. Er stellte das Auto auf dem Parkplatz des Stadthotels ab, nahm die Tasche, die aus einem kräftigen blauen Gewebe bestand, und buchte ein Zimmer mit Fenster zum Marktplatz, auf dem sich um diese Zeit, halb sechs, nur wenige Menschen bewegten.
Er schüttelte sich die Schuhe von den Füßen, zog die Jacke aus und ließ sie auf den Boden fallen, streckte sich auf dem Bett aus und spürte, wie seine Muskeln erschlafften. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder, sah auf die Uhr: zwanzig vor sechs. Wenn er den letzten Kurzfilm in seinem Leben rasch rückwärts laufen ließ, würde er in Schuhe und Kleider schlüpfen und es gerade noch zum Schnapsladen schaffen, falls es in diesem frommen Ort einen gab. Er blieb still liegen, die Gelüste in Gedanken und den müden Körper daneben ausgestreckt, und bevor er eine endgültige Entscheidung getroffen hatte, war er eingeschlafen.
Wide hatte von Körpern geträumt, die auf dem Wasser trieben, und erwachte von einem Zucken in seinem rechten Bein. Über seinem Kopf brannte die Bettlampe, er lag still und war vier Sekunden lang vollkommen desorientiert. Dann stellten sich seine Augen auf das Zimmer ein, alles gedämpft grau, und ihm wurde klar, wo er sich befand. Er setzte die Füße auf den dünnen Teppichboden und stand auf, zog sich aus und ging nackt ins Bad. Dort konnte er den Lichtschalter nicht finden, tappte zurück in den dunklen Vorraum und entdeckte die Schalter vor der Badtür. Er knipste das Licht an, das ihn blendete.
Wide steckte den Stöpsel in die Badewanne und ließ heißes Wasser einlaufen. Er stellte sich vor die Toilette und leerte seine Blase. Er schien minutenlang zu pinkeln und hatte ein Gefühl, als hätte er nicht mehr gepinkelt, seit er Göteborg verlassen hatte. Aber er hatte nichts weiter getrunken als den Kaffee bei Siv Karlsson und nicht mehr gegessen als ihre Käsebrote. Die dicke Butterschicht auf dem Brot hatte ihn am Leben erhalten.
Er spülte, wusch sich nachlässig die Hände, ging noch einmal ins Zimmer und öffnete die Minibar. Wide nahm die kleine Whiskyflasche und ein Bier heraus, schraubte den Deckel ab und goss Johnny Walker Black Label – ein typischer Hotelwhisky – in eins der hohen Gläser, die in Plastik gehüllt auf dem Kühlschrank standen. Daneben sah er den Flaschenöffner. Er nahm die Bierflasche und das Whiskyglas mit ins Bad und stellte das Wasser ab. Die Badewanne war zu einem Drittel gefüllt. Flasche und Glas stellte er auf den Boden und steckte einen Fuß ins Wasser. Es war heiß. Langsam tauchte er den Fuß ganz ein, dann den anderen, und als er in der Wanne stand, senkte er den Körper langsam in das blau schimmernde Wasser, bis es an seinen Hoden brannte. Er richtete sich ein Stückchen auf und senkte sich dann wieder hinein, diesmal ein bisschen tiefer und noch ein bisschen, und schließlich saß er in der
Weitere Kostenlose Bücher